„Wege in den Beruf“
Aufbau beruflicher Bildungsangebote für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung
Die Ausgangslage
Lange Zeit standen Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung in Deutschland weit außerhalb des Zentrums gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Erst im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde Taubblindheit im Jahr 2016 als Behinderung eigener Art anerkannt und das Merkzeichen TBl im Schwerbehindertenausweis eingeführt.
Den Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung ist es nicht möglich, den Ausfall des einen Fernsinnes (z. B. das Sehen) durch den anderen Fernsinn (das Hören) zu kompensieren. Daraus resultieren erhebliche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung des konkreten Lebensumfeldes, was letztlich zu umfassenden Einschränkungen in nahezu allen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe führt. Dies bedeutet zugleich, dass grundsätzlich ein erhöhter Förder- und Unterstützungsbedarf, vor allem in den Lebensbereichen Alltägliche Lebensführung, Kommunikation, Mobilität, Informationsgewinnung und letztlich auch im Bereich der Arbeit vorliegt. Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung benötigen in privaten und beruflichen Zusammenhängen spezifische Bildungs- und Förderangebote, um die Strategien und Fertigkeiten für eine selbstständige Lebensführung erlernen und daraufhin anwenden zu können.
Obwohl dieser Bedarf an spezifischer Rehabilitation angesichts der umfassenden Einschränkungen offensichtlich ist, gibt es im gesamten Bundesgebiet im Bereich beruflicher Teilhabe bislang kein angemessenes Unterstützungsangebot. Daraus folgt für viele Betroffene entweder eine häufig unterfordernde Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung oder aber, insbesondere bei einem erst späten Erwerb der doppelten Sinnesbehinderung im Erwachsenenalter, ein Verlust des Arbeitsplatzes und der Erwerbstätigkeit in Form von Frühverrentung.
Wege in den Beruf – unser Projektvorhaben
Basierend auf dieser Ausgangslage haben sich die Nikolauspflege – Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen in Stuttgart, das SFZ Förderzentrum gGmbH in Chemnitz und Berlin und das Deutsche Taubblindenwerk gGmbH in Hannover mit der Gründung des Projekts „Wege in den Beruf“ zum Ziel gesetzt, passgenaue und personenzentrierte Bildungsangebote für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung zu schaffen, um die betroffenen Menschen dabei zu unterstützen, ihren beruflichen und privaten Alltag (wieder) selbstständig zu bestreiten. Gleichzeitig sollen junge Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung erreicht werden, um ihnen die Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, eine Berufsausbildung zu beginnen oder den Eintritt in eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vollziehen.
Diese innovativen beruflichen Förderangebote werden ab Sommer 2025 allen Betroffenen im Bundesgebiet zugänglich sein. Derzeit werden durch das Projektteam die erforderlichen Grundlagen für diese Angebote an vier Standorten (Stuttgart, Hannover, Chemnitz, Berlin) geschaffen und entsprechende Konzepte entwickelt.
Vier Jahre Projekt „Wege in den Beruf“ – Vernetzung inklusive
Die Entwicklung neuer und innovativer Ausbildungsangebote und Rehabilitationsmaßnahmen für einen so spezifischen Personenkreis, wie es die Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung sind, erfordert vom Projektteam ein sehr umfangreiches und vielschichtiges Vorgehen.
Seit Beginn des Projekts arbeitet das Team sehr eng mit Expertinnen und Experten aus den Kooperationseinrichtungen, aus der wissenschaftlichen Forschung, aus verschiedenen Behörden und aus Selbsthilfeorganisationen zusammen. Durch diesen fachlichen Austausch und durch Hospitationen bei Rehabilitationseinrichtungen für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung im Ausland (Norwegen, USA, Kanada, Kenia) sowie die Teilnahme an (inter-)nationalen Fachkongressen hat das Projekt viele konstruktive Anregungen für die eigene konzeptionelle Arbeit erhalten. Beispielhaft sei hier die besondere Bedeutung einer umfassenden, ganzheitlichen und prozessbegleitenden Funktionsdiagnostik zur individuellen Ausgestaltung der Fördermaßnahmen erwähnt.
Schulung der Mitarbeitenden – elementar und unverzichtbar
Eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche individuelle Förderung von Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung sind umfassende Kenntnisse über die spezifischen Bedarfe und Hintergründe dieses Personenkreises. Aus diesem Grund erweitern Fachkräfte aus den vier Kooperationseinrichtungen auf der Grundlage eines zu diesem Zweck erstellten Fortbildungskonzeptes fortlaufend ihre entsprechenden Kompetenzen und Kenntnisse. Dieses Fortbildungskonzept beinhaltet unter anderem modulare mehrtägige Schulungen zu spezifischen Krankheitsbildern, Hilfsmitteln, diversen Kommunikationstechniken, Gehörlosenkultur, Lebenspraktische Fähigkeiten und Orientierung und Mobilität. Durch dieses umfangreiche Schulungsangebot und weitere praktische Erfahrungen in Form von Hospitationen in den Partnereinrichtungen ist sichergestellt, dass das begleitende Personal ab dem Sommer 2025 gut auf die bevorstehende Aufgabe der beruflichen Förderung taubblinder/hörsehbehinderter Menschen vorbereitet sein wird.
Bildungsangebote und Testdurchläufe
Die Kernaufgabe des Projektes „Wege in den Beruf“ besteht in der konzeptionellen Entwicklung neuer und innovativer beruflicher Bildungsangebote für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind durch das Projektteam folgende Konzepte erstellt worden:
- Das Assessment als zwei- bis vierwöchige vorgeschaltete individuelle Bedarfsermittlungsmaßnahme mit diagnostischen fach- und allgemeinärztlichen sowie psychologischen Inhalten. Des Weiteren werden im Verlauf des Assessments die Kompetenzen und Bedarfe in den Bereichen Kommunikationsfähigkeit, Hilfsmittelanwendung, Lebenspraktische Fähigkeiten und Orientierung und Mobilität ermittelt und intensive Beratungsgespräche zur aktuellen beruflichen Situation und Zukunft der Klienten und Klientinnen durchgeführt. Das Assessment endet mit einer Handlungsempfehlung bezüglich des weiteren Vorgehens im Bereich der beruflichen Förderung.
- Die Berufliche Grundrehabilitation Hören Sehen Tasten (BGHST) ist eine modularisierte individuelle Fördermaßnahme mit dem Ziel der Sicherung bzw. (Wieder-)Herstellung der Teilhabe am Arbeitsleben. Die konkreten Inhalte leiten sich unter anderem vom vorgeschalteten Assessment ab und können zum Beispiel in der Vermittlung taubblindenspezifischer Strategien und Techniken, im Umgang mit Hilfsmitteln, in der Erprobung und Einübung von Kommunikationsformen, in Schulungen zu Lebenspraktischen Fähigkeiten und zur Orientierung und Mobilität oder aber im Umgang mit dem PC bestehen. Teil der Beruflichen Grundrehabilitation Hören Sehen Tasten ist zudem die Übertragung des erlangten Wissens in den Arbeitsalltag in Form einer Arbeitserprobung, bei der die erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen praktisch eingesetzt werden sollen. Dabei ist die Begleitung und Beratung der (zukünftigen) Arbeitgeber ebenfalls elementarer Bestandteil der BGHST.
- Anpassung der bereits bestehenden Konzepte der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (BvB) sowie der Ausbildungen Fachinformatik und Hauswirtschaft auf den Personenkreis taubblinder/hörsehbehinderter Auszubildender.
Darüber hinaus werden die Öffnung und Anpassung weiterer beruflicher Bildungsangebote für den Personenkreis taubblinder/hörsehbehinderter Menschen angestrebt.
Die praktische Umsetzung der entwickelten Konzepte dieser Berufsförderungsangebote wird fortlaufend von taubblinden/hörsehbehinderten Personen in Form von Testläufen erprobt. Die hier gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse fließen in die kontinuierliche Weiterentwicklung der vorliegenden Konzepte ein. Somit können konzeptionelle Ungenauigkeiten rechtzeitig erkannt und die Inhalte noch enger an die spezifischen Bedarfe der Zielgruppe angelehnt werden. Ab Sommer 2025 stehen allen interessierten Personen diese beruflichen Fördermaßnahmen zur Verfügung.
Öffentlichkeitsarbeit
Die Implementierung so spezifischer und innovativer beruflicher Bildungsangebote macht seit Projektbeginn eine kontinuierliche und sehr umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit erforderlich. Der betroffene Personenkreis taubblinder/hörsehbehinderter Menschen, dessen Angehörige und entsprechende Facheinrichtungen und Organisationen sollen permanent und frühzeitig über die zukünftigen Möglichkeiten der beruflichen Bildung informiert werden. Zu den regelmäßigen Aktivitäten des Projektteams gehören die Teilnahme an (zum Teil internationalen) Fachkongressen und Ausstellungen genauso wie Veröffentlichungen in der Fachliteratur. Alle interessierten Personen hält das Projektteam zudem gerne auf der eigenen Internetseite www.wege-in-den-beruf-tb.de, durch den regelmäßig erstellten Newsletter oder über Social Media (Instagram) auf dem Laufenden. Ziel einer so umfassenden Öffentlichkeitsarbeit ist dabei auch, schon im Vorfeld der Implementierung der Bildungsangebote enge Kooperationen mit zukünftigen Arbeitgebern zu initiieren.
Finanzierung der Angebote
Die beschriebenen beruflichen Bildungsmaßnahmen werden ab Sommer 2025 an den unterschiedlichen Standorten der Kooperationspartner angeboten. Im Vorfeld gilt es für das Projektteam, die neu konzipierten Bildungsangebote in das dauerhafte Leistungsangebot der Projektpartner zu integrieren und die Finanzierung zu sichern. Das Ziel ist dabei, eine bedarfsgerechte und personenzentrierte dauerhafte Unterstützung taubblinder/hörsehbehinderter Menschen bei deren Teilhabe am Arbeitsleben sicherzustellen.
Berufliche Beratung für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung
Als wesentliches Resultat der bisherigen Arbeit des Projektteams besteht seit Mai 2024 das Angebot einer beruflichen Beratung für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung an den vier Standorten der Projektpartner. Dies ist ein Meilenstein für die berufliche Teilhabe dieser Menschen und bedeutet für das Projektteam zugleich, durch den direkten Austausch im aktuellen Beratungsgeschehen wichtige Rückschlüsse und Hinweise auf die zukünftigen Angebote gewinnen zu können. Nähere Informationen zu den beruflichen Beratungsangeboten in Stuttgart, Hannover, Chemnitz und Berlin können Sie dem anhängenden QR-Code entnehmen.
Vier Jahre Projekt „Wege in den Beruf“ – ein Rück- und Ausblick
Mittlerweile liegen vier sehr ereignisreiche Jahre intensiver Projektarbeit hinter dem Team von „Wege in den Beruf“. Dabei konnte eine ganze Reihe wesentlicher Meilensteine erreicht werden. Dazu gehören die Erarbeitung der Konzepte für die Berufliche Grundrehabilitation Hören Sehen Tasten (BGHST) und des vorausgehenden Assessments zur individuellen Bedarfsermittlung genauso wie die Anpassung der Ausbildungskonzepte IT und Hauswirtschaft an den Personenkreis taubblinder/hörsehbehinderter Menschen.
Die fortlaufenden Testläufe dieser Maßnahmen werden weiterhin wichtige Erkenntnisse einbringen und dafür sorgen, dass die entsprechenden Konzepte kontinuierlich weiterentwickelt werden.
Das Projektteam kann bei seiner Arbeit auf ein großes Netzwerk von betroffenen Personen, Expertinnen und Experten und kooperierenden Organisationen zurückgreifen. Dieser regelmäßige Austausch nimmt bei der Weiterentwicklung der Bildungsangebote einen sehr großen Stellenwert ein.
Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit informieren wir permanent über unsere Projektarbeit und die bereits bestehenden und noch bevorstehenden Unterstützungsangebote an den vier Standorten unserer Projektpartner.
Das Projektteam geht motiviert in das letzte Projektjahr und ist sehr zuversichtlich, das Ziel einer dauerhaften Teilhabe von Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung am Arbeitsleben und eine sichere Perspektive für deren berufliche Zukunft zu erreichen.
Literatur
Gemeinsamer Fachausschuss hörsehbehindert/taubblind (2010). Taubblindheit: Eine Behinderung eigener Art (Fachgutachten zu den speziellen Bedarfen taubblinder Menschen im Hinblick auf die Teilhabe an der Gesellschaft). Online verfügbar unter https://www.dbsv.org/stellungnahme/gftb-fachgutachten-taubblindheit-eine-behinderung-eigener-art-zu-den-speziellen-bedarfen-taubblinder-menschen-im-hinblick-auf-di.html (abgerufen am 02.08.2024).
Kaul, Thomas/Menzel, Frank/Zelle, U./Niehaus, Mathilde/Kohl, Sina (2014). Teilhabechancen von taubblinden Menschen in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie der Universität zu Köln. In: DAS ZEICHEN 97, 200–209.
Abbildung 1: Wege in den Beruf, gefördert durch die Aktion Mensch Stiftung
Unter diesem QR-Code erreichen Sie die Internetseite www.wege-in-den-beruf-tb.de: