Paula Lanz, Lea Maurer

Die Interventionsplanung – das Herzstück der Tactile Working Memory Scale (TWMS)

Wie setze ich die Förderung kognitiver Fähigkeiten von Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung in der Praxis um?

Paula Lanz, Lea Maurer

Einleitung

Aufbauend auf den gewonnenen Erkenntnissen über die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung folgt im Rahmen einer dynamischen Ausrichtung des Assessments mit der Tactile Working Memory Scale (TWMS) die Planung und Umsetzung von Interventionsmaßnahmen. Durch die entsprechende Gestaltung einer gemeinsamen Aktivität kann ein Mensch mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung befähigt werden, Informationen zu sammeln, an einer Interaktion teilzunehmen, Probleme zu bewältigen, sich zu erinnern oder sozial erfolgreicher zu interagieren.

J. ist taubblind geboren. Sein vorrangiger Zugang zur Welt ist körperlich-taktil. Er ist beidseitig mit Cochlea-Implantaten (CIs) versorgt. Er zeigt eindeutige Reaktionen auf verschiedene Geräusche sowie auf Sprache. Mit Unterstützung eines Rollators bewegt er sich laufend fort, ansonsten bewegt er sich vorrangig auf dem Boden rutschend durch den Raum. Während der Schulzeit hat er kontinuierlich eine Schulbegleitung, die ihm einen direkten Zugang zu Kommunikation und zu Information über die körperlich-taktile Modalität ermöglicht.

Zur Erstellung des Prä-Interventionsprofils von J. wurde der Beobachtungsbogen zunächst von verschiedenen Fachkräften des Klassenteams im Austausch ausgefüllt. Dabei wurden insbesondere unklare Items diskutiert und sich über vorhandene Strategien verständigt. Dies galt als Grundlage für den Austausch mit den Kolleginnen der Beratungsstelle für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Doch wie können jetzt die gewonnenen Erkenntnisse aus der TWMS in die alltägliche Arbeit eingebunden werden? Wie unterstütze ich die (Weiter-)Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten? Wie gestalte ich passende Interventionsmaßnahmen?

Interventionsmaßnahmen als wesentlicher Teil des dynamischen Assessments mit der TWMS

Die Tactile Working Memory Scale ist eine itembasierte Bewertungsskala zur strukturierten Beobachtung des Arbeitsgedächtnisses in der körperlich-taktilen Modalität bei Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Hauptziel des Assessments mit der TWMS ist es, ein möglichst hohes Level der Arbeitsgedächtnisfunktionen durch die individuelle Optimierung der physischen und sozialen Umgebung und durch die Vermittlung von weiteren Strategien zu erreichen (Nicholas et al. 2019). Das Assessment ist dynamisch ausgerichtet (Damen et al. 2020, 124). Gemäß jener Ausrichtung liegt der Fokus auf der Planung und Umsetzung geeigneter Interventionsmaßnahmen (Boers 2014).

Das sogenannte Dynamic Assessment ist ein interaktiver Prozess, der Diagnostik und Intervention in einen engen Zusammenhang bringt. Es verfolgt den Zweck, Hindernisse zu identifizieren, um effektives Lernen zu ermöglichen, Wege zu finden, um diese identifizierten Hindernisse zu beseitigen bzw. zu umgehen sowie die darauffolgenden Interventionen in Bezug auf das Lernen zu bewerten. Im Vordergrund steht die Frage, wie effektives Lernen für den Einzelnen ermöglicht werden kann (Haywood und Lidz 2007, xvii).

In einem dynamischen Assessment bedeutet dies, dass der Durchführende Strategien zur Lösung spezifischer Probleme auf individueller Basis vermittelt. Diese verfolgen das Ziel, die Entwicklung des taktilen Arbeitsgedächtnisses positiv zu beeinflussen. Darüber hinaus werden das Ausmaß der Verinnerlichung sowie die Übertragbarkeit auf andere Anwendungskontexte mit einem höheren Grad an Komplexität, Neuartigkeit und Abstraktion bewertet (Nicholas et al. 2019, 47). In Form eines hoch individualisierten Prozesses ist das Dynamic Assessment im Allgemeinen von entscheidender Bedeutung zum vollständigen Verständnis der Kompetenzen und Potenziale eines Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung (Boers 2014, 43).

Formulierung von Interventionen im Rahmen des Assessments mit der TWMS

In der Interventionsplanung wird ein doppelter Fokus verfolgt (siehe Abb. 1) (Nicholas et al.  2019, 67). Die allgemeinen Strategien streben die Optimierung der physischen und sozialen Umgebung an. Die itemspezifischen Strategien hingegen zielen auf die Ausbildung der im Beobachtungsbogen umschriebenen Verhaltensweisen und werden in der körperlich-taktilen Modalität vermittelt. Durch das spätere Erstellen des Post-Interventionsprofils wird der Erfolg der Interventionsmaßnahmen in Bezug auf den Lernprozess überprüft.

Die schematische Darstellung zeigt drei vertikal angeordnete Rechtecke, mit zwei Linien verbunden. Das mittig platzierte Rechteck „taktile Arbeitsgedächtnispotenziale“ hebt sich farblich von den anderen beiden Rechtecken ab. Das obere Rechteck ist wie folgt beschriftet: „Optimierung der physischen und sozialen Umwelt in der körperlich-taktilen Modalität (allgemeine Strategien)“. Im unteren Rechteck steht „Vermittlung effektiver Strategien in der körperlich-taktilen Modalität (itemspezifische Strategien)“.

Abbildung 1: Doppelter Fokus in der Interventionsplanung (Quelle: eigene Darstellung nach Nicholas et al. 2019, 67)

Zur Ableitung von Interventionsmaßnahmen sind sowohl allgemeine als auch itemspezifische Strategien und mögliche Beispiele in einer sogenannten Förderkartei zusammengestellt. Diese wurde im Rahmen der Implementierung des Verfahrens innerhalb der Stiftung St. Franziskus auf Grundlage einer englischen Vorlage als unveröffentlichte Ausgabe erstellt (Nicholas 2022).

Die itemspezifischen Strategien werden – analog zu den Items – in wahrnehmungsbezogene, sozial-kognitive und kognitive Strategien differenziert. Die wahrnehmungsbezogenen Strategien haben die Verbesserung des haptischen Wahrnehmungslernens zum Ziel, wohingegen die sozial-kognitiven Strategien sich auf die Verbesserung der Fähigkeiten in sozialen Kontexten beziehen. Die kognitiven Strategien intendieren die Verbesserung des Lernens unter Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsfunk­tionen und der Organisation, des Behaltens sowie der absichtlichen Verarbeitung von Informationen im Arbeitsgedächtnis (Nicholas 2022).

Die allgemeinen Strategien verfolgen die Optimierung einer entsprechenden Umgebung zur Vermittlung itemspezifischer Strategien. Eine an den Wahrnehmungsmodalitäten ausgerichtete Lernumgebung sowie gemeinsame und harmonische Erfahrungen in der körperlich-taktilen Modalität sind ein stabiles Gerüst für die Entwicklung des taktilen Arbeitsgedächtnisses eines Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Er ist auf Bezugspersonen angewiesen, die einen geeigneten Rahmen zur Entwicklung des taktilen Arbeitsgedächtnisses zur Verfügung stellen. Sofern der Kontext gut etabliert ist, kann die Bezugsperson Strategien für das Arbeitsgedächtnis einführen, ohne den Fluss der Interaktion zu unterbrechen (Nicholas 2013, 57–59). Zur Auswahl allgemeiner Strategien könnten handlungsleitende Fragestellungen sein – so auch bei J.: Ist die Umgebung ausreichend an die Wahrnehmungsmodalitäten des Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung angepasst? Hat der Mensch mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung während der sozialen Interaktion ausreichend Zeit zur Verarbeitung der Informationen? Werden Äußerungen des Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung erkannt, bejaht und bestätigt?

Bei der Auswahl geeigneter itemspezifischer Strategien sind besonders diejenigen Items von Interesse, welche im Prä-Interventionsprofil als fehlend bzw. unsicher bewertet wurden. Darüber hinaus kann es hilfreich sein, gemeinsam zu reflektieren, welche der umschriebenen Verhaltensweisen dem Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung zugetraut werden können.

Im Fallbeispiel standen u. a. Item 7 und 10 im Fokus (Itembeschreibung s. u.). Beide Items wurden als unsicher (↯) bewertet. Im nächsten Schritt wurden gemeinsam entsprechende Interventionen formuliert. Diese Vorgehensweise erwies sich als besonders sinnvoll, damit alle beteiligten Personen Ideen erarbeiten und deren Umsetzung im Alltag diskutieren können.

Für beide o. g. Items wurden u. a. folgende itemspezifische Interventionsmaßnahmen formuliert:

Item 7 Körperlich-taktiles Erkennen räumlicher Beziehungen: Nutzt aktive Berührung und Bewegung zielgerichtet, um räumliche Beziehungen zwischen Objekten und Orten zu erkennen.

Ziel der Interventionsmaßnahme: Informationen über die räumliche Lage eines Objekts in der unmittelbaren Umgebung sammeln

  • Vermittlung in der Interaktion: Anleitung zum Auffinden und Herausziehen seiner Spielzeugkiste in unmittelbarer Nähe, z. B. Anleitung zu Exploration des Regals sowie zu Suchbewegungen und zum Strecken/Greifen

Item 10 Soziales Arbeitsgedächtnis: gegen­seitige und gemeinsame, körperlich-taktile Aufmerksamkeit: Nutzt aktiv Berührung und Bewegung, um ein Objekt zusammen mit der Bezugsperson zu erkunden und zeigt dabei Verhaltensweisen der sozialen Aufmerksamkeit.

Ziel der Interventionsmaßnahme: Koordinierte, gemeinsame Beteiligung während der sozialen Interaktion

  • Vermittlung in der Interaktion: Gemeinsame Aufmerksamkeit füreinander oder für eine gemeinsame Aktivität in Unterrichts- und Pausensituationen, z. B. Entwicklung eines gemeinsamen Interaktionsspiels und gemeinsame Exploration eines Unterrichtsgegenstands

Anschließend wurden diese Interventionen in seinen schulinternen Förderplan integriert, indem konkrete Maßnahmen zur Umsetzung formuliert wurden. Die Dokumentation im Förderplan ermöglicht eine konsequente Weiterführung entsprechender Maßnahmen, insbesondere beim Wechsel der Klasse bzw. Klassenstufe.

Vermittlungsweise ausgewählter Strategien

Theoretisch hergeleitet wird der Ansatz des Dynamic Assessment zum einen vom Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ (ZNE) nach Vygotskij (1978) und zum anderen vom Konzept des sogenannten Mediated Learning nach Feuerstein (1979). Jene sind ebenso leitend für die Art der Vermittlung geeigneter Strategien.

Die Bezugsperson soll dem Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung zu der Erfahrung verhelfen, dass er das erreichen kann, was die Bezugsperson ihm zutraut. Die Distanz zwischen dem, wozu er allein gegenwärtig fähig ist, und dem, was er in naher Zukunft allein zu schaffen vermag, wird als ZNE bezeichnet. Die Aufgabe der Bezugsperson ist es, den Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung in der Überwindung dieses Unterschieds zu unterstützen. Die Hilfe der Bezugsperson zum Erreichen der ZNE wird von Bruner (1990) als „Scaffolding“ bezeichnet. Die Bezugsperson unterstützt den Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung dabei, etwas zu tun, was er tatsächlich noch nicht allein schafft. Auf diese Weise macht er die Erfahrung des Bewältigenkönnens, bevor er eigentlich dazu in der Lage ist. Bei zunehmender selbstständiger Bewältigung reduziert die Bezugsperson nach und nach ihre Unterstützung (Nafstad und Rødbroe 2018, 38–41). Im Sinne des Mediated Learning als einen Interaktionsprozess zwischen dem Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung und seiner Bezugsperson stellt sie sich zwischen ihn und die „äußere Stimulationsquelle“ (Feuerstein, Rand und Hoffman 1979, 71). Sie vermittelt dem Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung die Welt, indem sie die Umwelterfahrungen so gestaltet, auswählt und fokussiert, dass er in ihm geeignete Lernvoraussetzungen und -gewohnheiten hervorbringt (Nicholas et al. 2019, 45–49).

Die Entwicklung des taktilen Arbeitsge­dächtnisses vollzieht sich insofern synchron zum sozialen Umfeld (Sameroff 2010, 16). Die Bezugsperson dient dabei als Gerüst. In der gemeinsamen Gestaltung der Beziehung baut sie gemeinsam mit dem Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung das taktile Arbeitsgedächtnis auf (siehe Abb. 2). Während des Prozesses der sozialen Interaktion können entsprechend Strategien für das Arbeitsgedächtnis eingeführt werden (Nicholas 2013, 58).

In der schematischen Darstellung sind zwei Rechtecke mit einem doppelten Pfeil verbunden. Darüber befindet sich eine Ellipse, die durch Striche mit den beiden Rechtecken verbunden ist. Unter den Rechtecken sind jeweils zwei Rechtecke, dazwischen ist ein Trapez. Die Ellipse und das Trapez heben sich farblich von den vier Rechtecken ab. Das Trapez verbindet die beiden Rechtecke, stellt auf diese Weise eine Beziehung her und trägt die Beschriftung „Anhaltende soziale Interaktion“. Die beiden Rechtecke, die mit dem doppelten Pfeil verbunden sind, sind mit „MmTb/Hs“ und „Bezugsperson“ beschriftet. Die darüber befindliche Ellipse ist mit folgender Beschriftung versehen: „Aktivität, die die Vermittlung eingebunden wird“. Das Rechteck unter dem Rechteck „MmTb/Hs“ ist mit „Arbeitsgedächtnisfunktionen“, das unter dem Rechteck „Bezugsperson“ ist mit „Unterstützung der Entwicklung des taktilen Arbeitsgedächtnisses“ beschriftet.

Abbildung 2: Vermittlungsweise itemspezifischer Strategien während einer Aktivität (Quelle: eigene Darstellung nach Nicholas 2013, 58)

Um J. die oben beschriebene itemspezifische Strategie für Item 7 zu vermitteln, mussten zunächst einige Voraussetzungen im Sinne der Optimierung der Umwelt vorgenommen werden. Eine Voraussetzung, um die Spielzeugkiste perspektivisch selbstständig auffinden zu können, ist es, dass der Aufbau der Pausensituation (Matte vor dem Regal, Kiste im selben Fach) immer gleich ist. Zudem erleichtert das Anbringen seines taktilen Namenssymbols (Schaffell) inklusive seines Namens in Brailleschrift das Wiedererkennen der Kiste. Zum leichteren Herausziehen wurde ein Tischtennisball an einer Schnur angebracht. Außerdem ist die Kiste mit gleichbleibenden, motivierenden Spielsachen gefüllt. In wiederkehrenden Situationen wird J. die Möglichkeit zur Exploration der Umgebung gegeben, sodass er die räumlichen Beziehungen zwischen seiner eigenen Position und der Spielzeugkiste zu erfassen lernt (siehe Abb. 3).

Das Foto zeigt einen Jungen mit CIs sitzend auf einer Matte vor seiner Spielzeugkiste von der Seite. Mit seiner linken Hand exploriert er das Schaffell, die rechte stützt er auf einer anderen Kiste im Regal ab.

Abbildung 3: Sammeln von Erfahrungen über die Position der Spielzeugkiste (Quelle: eigene Aufnahmen)

Darauf aufbauend wird J. in einer gemeinsamen Interaktion taktil angeleitet, die Spielzeugkiste herauszuziehen. Die Bezugsperson stellt dabei das entsprechende Unterstützungsformat zur Verfügung, indem sie J. ermutigt, ihrem Aufmerksamkeitsfokus zu folgen und ausreichend Zeit zur Verarbeitung der Informationen lässt (siehe Abb. 4). Dabei können zur Erzeugung eines Aufmerksamkeitsfokus akustische Reize erzeugt sowie die Exploration des Namenssymbols Hand-unter-Hand vermittelt werden. Auf diese Weise soll die körperlich-taktile Identifizierung und Erkennung der räumlichen Lage der Kiste angebahnt werden. Insbesondere seine eigenen Initiativen, z. B. sein eigenes Greifen und Strecken, sollten verfolgt und aufgegriffen werden, indem diese Bewegungen als Suchen interpretiert und bestätigt werden. Zudem sollte Raum für eigene Explorationshandlungen beim Herausziehen der Kiste gegeben werden (siehe Abb. 5). Im Rahmen der gemeinsamen Interaktion können perspektivisch, je nach Aufmerksamkeitsspanne, Gegenstände aus der Kiste genommen bzw. wieder hineingelegt werden.

Auf dem Foto sitzt ein Junge mit CIs zusammen mit seiner Bezugsperson auf der Matte. Sie halten über die Knie Körperkontakt. Sie erkunden mit ihren linken Händen den Tischtennisball, der an seiner Spielzeugkiste zum leichteren Herausziehen befestigt ist. Die Spielzeugkiste ist bereits ein kleines Stück aus dem Regal gezogen.

Abbildung 4: Gemeinsames Herausziehen der Spielzeugkiste (Quelle: eigene Aufnahmen)

Ferner kann der Auf- und Ausbau räumlicher Beziehungen auch in anderen Anwendungskontexten unterstützt werden, z. B. beim gemeinsamen Händewaschen (taktiles Auffinden des Wasserhahns sowie der Seife) oder beim gemeinsamen Auffinden des Trinkgefäßes am Tisch. Dabei können der Grad der Verinnerlichung sowie die Übertragbarkeit der Strategien überprüft werden.

Um J. die oben beschriebene itemspezifische Strategie für Item 10 zu vermitteln, wurde zunächst eine Veränderung der Positionierung der Bezugsperson in Unterrichtssituationen vorgenommen. Bisweilen saß die Bezugsperson bei der Exploration gemeinsamer Unterrichtsgegenstände sowie beim taktilen Gebärden neben

Auf dem Foto zieht der Junge mit CIs auf seiner Matte sitzend seine Spielzeugkiste aus dem Regal heraus, indem er mit beiden Händen an der oberen Kante der Kiste zieht.

Abbildung 5: Exploration beim selbstständigen Herausziehen der Kiste (Quelle: eigene Aufnahmen)

ihm. Nun sitzen beide, J. und seine Bezugsperson, hintereinander auf einem Schaumstoffwürfel. Auf diese Weise ist die Bezugsperson kontinuierlich sozial verfügbar. Dabei nehmen beide einen gemeinsamen Bezugspunkt ein.

Zur Weiterentwicklung der gegenseitigen körperlich-taktilen Aufmerksamkeit werden Interaktionsspiele, wie das gemeinsame Singen und Klatschen, fokussiert. Auf diese Weise wird eine koordinierte, gemeinsame Beteiligung in der sozialen Interaktion unterstützt. J. erhält die Möglichkeit, sich in die Interaktion einzubringen, indem er dem Aufmerksamkeitsfokus der Bezugsperson folgt und eigene Äußerungen einbringt, z. B. gemeinsam zu klatschen. Dabei schafft sie u. a. einen Zugang zu relevanten sozial-kognitiven Informationen und baut körperlich-taktile Aufmerksamkeitsfunktionen auf (siehe Abb. 6).

Auf dem Foto sitzt die Bezugsperson in engem Körperkontakt hinter dem Jungen mit CI auf einem Schaumstoffwürfel. Die Bezugsperson trägt eine digitale Übertragungsanlage. Sie sind in Interaktion, ihre Hände berühren sich, beide lachen.

Abbildung 6: Entwicklung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus in der Interaktion (Quelle: eigene Aufnahmen)

Aufbauend auf den körperlich-taktilen Aufmerksamkeitsfunktionen können dann Strategien zur Verbesserung der Verbindung zwischen dem Arbeitsgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis (itemspezifische Strategien Item 18) oder zur Aufrechterhaltung von Informationen (itemspezifische Strategien Item 19), z. B. das sogenannte Rehearsal, angeboten werden. Dabei werden Informationen im Arbeitsgedächtnis aufgefrischt, um sie in einem hohen Maße aufrechtzuerhalten und die Informationen im Langzeitgedächtnis zu integrieren (Nicholas 2013, 58).

Reflexion der Interventions­maßnahmen – Erstellung eines Post-Interventionsprofils und Festlegung weiterer Schritte

Die Interventionsmaßnahmen wurden über fünf Monate, mit Unterbrechung durch Ferien, im Schulalltag umgesetzt und in verschiedenen Situationen und Förderangeboten eingebunden. Um den Grad der Verinnerlichung der Strategien zu überprüfen sowie effektives Lernen weiterhin zu unterstützen, wird im Rahmen der Erstellung eines Post-Interventionsprofils die Weiterentwicklung kognitiver Fähigkeiten reflektiert. Anschließend werden im Sinne des dynamischen Assessments die bisher verfolgten Interventionsmaßnahmen konkretisiert, weiterhin im Alltag integriert und entsprechend der festgestellten Potenziale erweitert.

Die Ergebnisse des Post-Interventionsprofils von J. machen Fortschritte im Hinblick auf die Items 7 und 10 sichtbar. In Bezug auf Item 7 wird deutlich, dass J. über erste Vorstellungen über räumliche Beziehungen verfügt. Zudem motiviert ihn die Auseinandersetzung mit den Gegenständen aus seiner Spielzeugkiste. In Zusammenhang mit seinen weiterentwickelten Fähigkeiten sozialer Formen der Aufmerksamkeit sollte das gemeinsame, körperlich-taktile Auffinden der Spielzeugkiste vertieft werden. Auf diese Weise kann J. Strategien erlernen, räumliche Beziehungen zu erkennen und diese zum Auffinden seiner Spielzeugkiste zu nutzen.

In Bezug auf Item 10 wird deutlich, dass J. situationsspezifisch zu einer gemeinsamen Aufmerksamkeit füreinander oder für eine gemeinsame Aktivität in der Lage ist. Bei der Exploration von Gegenständen bzw. dem taktilen Verfolgen von Gebärden gelingt es ihm, dem Aufmerksamkeitsfokus seiner Bezugsperson zu folgen. Dies gelingt ihm ebenso in körperlich-taktilen Interaktionsspielen. Er ist somit in der Lage, mit einer Bezugsperson über Geschehnisse in der Gegenwart in den Austausch zu treten.

Diese Fortschritte befähigen ihn ebenso, sich mit einer Bezugsperson über bereits Erlebtes in einer körperlich-taktilen Modalität auszutauschen. Erste Strategien hat er bereits erworben, beispielsweise erinnert er sich an sein bevorzugtes Interaktionsspiel körperlich-taktil und fordert dies aktiv mit einer eigens entwickelten Geste ein.

Auf Grundlage dessen soll J. perspektivisch in sogenannte autobiografische Erinnerungsgespräche (itemspezifische Strategie Item 18) verwickelt werden. In jenen unterhält er sich mit einer Bezugsperson in der körperlich-taktilen Modalität über ein Ereignis in der Vergangenheit, z. B. über ein Ereignis am Schultag im häuslichen Umfeld. Zeitgleich können Erinnerungsgespräche unmittelbar nach dem Ereignis oder der Aktivität initiiert werden. Dies erleichtert die Organisation der Informationen und ermöglicht das spätere Erinnern. Derartige Strategien stärken die Verbindung zwischen dem Arbeits- und dem Langzeitgedächtnis.

Eine Möglichkeit zum Teilen von Aktivitäten stellt eine sogenannte Erzählbox dar. Dabei handelt es sich um eine kleine Box, in die für J. relevante Gegenstände des Schultages oder von zu Hause hineingelegt werden. Der jeweils andere Bereich, die Schule oder die Familie, hat dann die Möglichkeit, mit ihm und den Gegenständen als Bezugsobjekte über Erlebnisse zu sprechen. Das Erlebte kann über die körperlich-taktile Modalität nacherzählt werden, indem Gesten und Gebärden am Körper erfahrbar gemacht werden. Der Gegenstand dient als Gedächtnisstütze, um sich während der Interaktion besser an das Erlebte aus der Vergangenheit erinnern zu können (sog. Retrieval-Cue-Strategie, itemspezifische Strategie Item 18).

Falls es von einem Schultag keine bedeutsamen Gegenstände gibt, ist es möglich, wiederkehrende Rituale wie Lieder oder eine Interaktion mit einer Bezugsperson als „Erlebnis des Tages“ als Videoaufnahme auf seinem Tablet zu speichern. Auf diese Weise werden dem jeweiligen Bereich die für die Interaktion notwendigen Informationen detailliert zur Verfügung gestellt. In der Interaktion selbst ist es besonders relevant, die emotional bedeutsamen Erlebnisse mit großen Bewegungen am ganzen Körper und den entsprechenden Emotionen zu thematisieren (sogenannte narrative Gedächtnisstrategie, itemspezifische Strategie Item 18).

Fazit

Die Ausführungen artikulieren, dass insbesondere die dynamische Ausrichtung der TWMS ein Einbinden in die alltägliche Arbeit ermöglicht, indem es einen vereinbarten Rahmen für die gemeinsame Interaktion zur Verfügung stellt. Durch die Fokussierung auf eine geringe Auswahl an Items und die Ableitung der Interventionsmaßnahmen mithilfe der Förderkartei ist die Umsetzung im Alltag zielführend. Zudem ermöglicht die enge Verzahnung von Diagnostik und Förderung die individuelle Ausdifferenzierung des eigenen pädagogischen Angebots, indem Stolpersteine identifiziert und bearbeitet werden können. Nicht zuletzt erzeugen die einzelnen Interventionsmaßnahmen untereinander positive Synergien, die für die Vermittlung weiterer Strategien genutzt werden können.

Ferner ist es offenkundig, dass sich die (Weiter-)Entwicklung kognitiver Fähigkeiten in stabilen und harmonischen Beziehungen vollzieht. Die Bezugsperson ist maßgeblich an der Entwicklung des taktilen Arbeitsgedächtnisses beteiligt und hat einen großen Einfluss auf das Lernen des Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Insofern ist der Einbezug aller Bezugspersonen, sowohl im schulischen als im häuslichen Umfeld, in den Assessmentprozess unabdingbar.

Nicht zuletzt zeigen die Erfahrungen in der Interventionsplanung im Rahmen eines dynamischen Assessments mit der TWMS, dass weniger das „Was“, d. h. die Auswahl einer Intervention, sondern insbesondere die Verbindung des „Was“ mit dem „Wie“, d. h. die Art und Weise der Vermittlung, von entscheidender Bedeutung ist. Hierbei müssen die Bezugspersonen bei der Umsetzung aller Strategien beraten werden. So sind neben einem illustrierenden Vormachen, z. B. wie J. körperlich-taktil vermittelt wird, räumliche Beziehungen zu erkennen, regelmäßige Reflexionen im Team, beispielsweise mittels Videoanalyse, notwendig. Die daraufhin erreichten Fortschritte sollten durch die Erstellung weiterer Post-Interventionsprofile festgehalten werden. Ferner muss auch die Übertragung der Strategien in andere Anwendungskontexte fokussiert werden. Auf diese Weise richtet das Umfeld des Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung seinen Blick auf kognitive Strategien in der körperlich-taktilen Modalität, sodass unentdeckte Potenziale sichtbar gemacht werden können.

Literatur

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Nafstad, Anne/Rødbroe, Inger B. (2018). Kommunikative Beziehungen: Interventionen zur Gestaltung von Kommunikation mit Menschen mit angeborener Taubblindheit. Würzburg: Edition Bentheim.

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Nicholas, Jude (2022). Tactile working memory scale: A professional manual [Supplementary material 2, A checklist of learning strategies that support Tactile Working Memory] (Paula Lanz, Übers.). Nordic Welfare Centre.

Sameroff, Arnold (2010). A unified theory of development: a dialectic integration of nature and nurture. In: Child Development 81(1), 6–22. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.2009.01378.x.

Vygotskij, Lev S./Cole, Michael (1978). Mind in society: the development of higher psychological processes (Nachdr.). Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press.

Abbildungen

Paula Lanz

Sonderpädagogin
Stiftung St. Franziskus

Paula.Lanz@stiftung-st-franziskus.de

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Lea Maurer

Sonderpädagogin
Stiftung St. Franziskus

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