Braucht es eine eigene Didaktik im Bereich Taubblindheit/Hörsehbehinderung?
In einer Zeit, in der sich der Fokus der Sonderpädagogik vermehrt auf die Anschlussfähigkeit an das allgemeine Curriculum richtet, macht sich die Taubblindenpädagogik auf den Weg, eine Annäherung an eine spezifische Fachdidaktik vorzunehmen. Da stellt sich berechtigterweise die Frage, ob es eine solch ausdifferenzierte Spezifik für eine verschwindend kleine Gruppe überhaupt benötigt.
Beispielhaft soll die Spezifik im Rahmen des Schriftspracherwerbs herausgearbeitet werden. Darauf aufbauend wird ein Einblick in die Inhalte und die Struktur des in Kürze erscheinenden Didaktikbuches „Wie kannst Du das am besten lernen – Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung (TB/HS) – eine fachdidaktische Annäherung“ gewährt.
Beispiel Schriftspracherwerb eines Schülers mit Taubblindheit
Schülerbeschreibung
Bei Lukas, der im Alter von 9 Jahren mit den Diagnosen Blindheit (Hell-Dunkel-Wahrnehmung sowie Stimulation von Licht- und Reflexionseffekten) und mittel-hochgradige Schallempfindungsschwerhörigkeit zu uns an die Schule kam, fiel bei der taktilen Wahrnehmung auf, dass er seine Welt – auch die Größe, Form und die Gestalt von Gegenständen – fast ausschließlich mit den Fingerspitzen/Fingerkuppen erkundete und wahrnahm. Dies wirkte sich auch auf die Wahrnehmung, Unterscheidung und Ausführung taktiler Gebärden aus, Lukas’ bevorzugter taktiler Wahrnehmungsmodus mit den Fingerspitzen konnte bei Gebärden die Parameter Handform, Handstellung und Ausführungsstelle nur in einem geringen Maß erfassen.
Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb
Wenn Lukas’ bevorzugte Weise der Erkundung der Welt auf der Wahrnehmung mit den Fingerkuppen basierte, stellte sich die Frage, ob die Brailleschrift zur Informationsaufnahme und als expressives Medium nicht zusätzlich für Lukas wichtig wäre.
Da Lukas’ passiver und aktiver (Gebärden-Wortschatz) – ein Lautsprachverständnis war aufgrund fehlender Hilfsmittelversorgung (noch) nicht vorhanden – noch sehr gering war, konnte ein Schriftspracherwerb nicht auf einem Kommunikationssystem (Lautsprache/Gebärdensprache) aufbauend, sondern nur als Erstspracherwerb erfolgen. Analyse und Synthese waren aufgrund der fehlenden Lautsprachwahrnehmung und somit fehlendem Höreindruck „zum Abgleich“ nicht möglich.
Braillemuster und Adaptationen der Taststraße
Um von den Stärken von Lukas auszugehen, wurden bei Sortier- und „Schuhkartonaufgaben“ nach dem Teacch-Modell verschiedene Braillemuster angeboten, die mit ähnlichen Aufgaben auf dem Klettbrett ergänzt wurden, sodass Lukas bald alle Braille-Buchstaben als Muster taktil unterscheiden konnte.
Auch die „Taststraße“ wurde genutzt, die einzelnen Aufgaben bedurften aber aufgrund der fehlenden sprachlichen Mittel und der fehlenden Konzepte von Welt einer starken Adaptation. Denn was ist eine „Maus“ oder ein „Käse“ (welche nur im Halbrelief oder durch anderes Material dargestellt sind) bzw. warum möchte diese Maus zum Käse? Was ist ein Ausgang und warum sollte man diesen suchen?
„Die Suche nach dem Ausgang“ wurde so verändert, dass in der Mitte der tastbaren Form zwei Magnete angebracht wurden, die verschoben werden, aber nicht über die Braillepunkte hinwegbewegt werden konnten; d. h. nur durch die Öffnung hinausgeschoben werden konnten.
Abbildung 1: Adaptation der Taststraße – „Die Suche nach dem Ausgang“
Auch „der Weg zum Käse“ wurde adaptiert, und anstelle der Maus sein Bezugsobjekt platziert und anstelle des Käses Lieblingsspielzeuge oder bevorzugte Aktivitäten (repräsentiert durch das entsprechende Bezugs-/Referenzobjekt) mit Klett fixiert.
Durch die Arbeit mit der „Taststraße“ konnten Lukas’ Tastbewegungen noch erweitert und ein unabhängiges Tasten mit den Fingern beider Hände erreicht werden als Voraussetzung für einen taktilen Leseprozess. Lukas hatte nun alle wichtigen Voraussetzungen für das Lesen von Brailleschrift. Doch wir waren immer noch auf der Ebene von Braille-Mustern. Wie konnten diese Muster Sinn und eine Bedeutung erlangen?
Abbildung 2: Adaptation der Taststraße – „Der Weg zum Käse“
Lesen von Ganzwörtern
Da aufgrund der fehlenden Lautsprachwahrnehmung eine Graphem-Phonem-Zuordnung nicht möglich war und einzelne Buchstaben und Silben meist nicht sinntragend und damit für Lukas ohne Bedeutung waren, musste entsprechend des logographemischen Ansatzes (Schrift als Informationsträger) von sinntragenden Einheiten, also ganzen Wörtern ausgegangen werden. Um Schrift als sinnvoll zu erleben, wurde nach Gegenständen gesucht, mit denen Lukas gerne hantierte. Diese sollten mit den Schriftzeichen in Verbindung gebracht werden.
Da sich Lukas gerne mit Taschenlampen sowie mit Besteck (das er schnell auf- und abbewegte, um Licht- und Reflexionseffekte zu erzielen und sein verbliebenes geringes Sehvermögen zu stimulieren) beschäftigte, fiel die Entscheidung auf die Begriffe: „Licht“ (für Taschenlampe, was auch der Gebärde dafür entspricht), „Messer“ und „Gabel“; auch für Messer und Gabel kannte Lukas die entsprechenden Gebärden. Außerdem waren die Wörter kurz und unterschieden sich im Anfangsbuchstaben, sodass es Lukas schnell gelang die Braille-Wörter mit den Gegenständen in Verbindung zu bringen.
Zur Systematisierung und zur sukzessiven Erfassung jedes einzelnen Buchstabens wurden diese immer wieder gleichzeitig zum Lesen mit der einen Hand in die andere Hand gelormt.
Abbildung 3: Lormhand (Quelle: https://stiftung-taubblind-leben.de/lormen )
Schreiben
Da wir das „Schreiben“ als Aneinanderreihung von Buchstaben in einer bestimmten, festgelegten Reihenfolge verstehen, die als Ganzes sinntragend ist, und Lukas in der Handhabung von Klett-Braille-Buchstaben inzwischen sehr versiert war, „schrieb“ er zunächst so, dass er die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge klettete, um somit beispielsweise seinen „gewünschten“ Gegenstand erhalten zu können. Die alphabetische Phase – die phonetisch/lautgetreue Phase als „notwendige Voraussetzung“ für die orthographische Phase (rechtschriftliche Phase) – musste wiederum „übersprungen“ werden. Bei einer überschaubaren Menge an „Auswahlbuchstaben“ ist diese Form des Schreibens gut machbar. Um unabhängiger von einer vorgegebenen „Vor-Auswahl“ zu werden, sollte der Schritt zum Schreiben auf der Braille-Maschine erfolgen.
Abbildung 4: Braillemaschine mit Holzleiste zur Verdeutlichung der Tastenkombination eines Buchstabens
Zur Verdeutlichung der Tastenkombination wurden – da auch Zahlen/Ziffern für Lukas bis zu diesem Zeitpunkt nicht zur Verfügung standen – auf einer Holzleiste erhabene und weniger erhabene Punkte (erstellt durch Stecknadel und Reißnägel) in einer linearen Anordnung für den jeweiligen Buchstaben zwischen Bodenleiste und Tastatur einer Eurotype-Maschine geschoben. Dabei entsprach der Abstand der Punkte dem der Tasten; durch die räumliche Nähe konnte schnell erfasst werden, welche Tasten zu drücken waren. Dadurch, dass die Braillebuchstaben links an dieser Holzleiste nochmals angebracht wurden, konnte ein selbstständiges Abgleichen mit der erzeugten Prägung auf dem Brailleschriftpapier erfolgen.
Lernfortschritte
Aufgrund einer optimaleren Hörgeräte-Versorgung, aber auch durch die intensive Beschäftigung mit einzelnen Wörtern und Begriffen, gelang es Lukas durch diesen multisensorischen Ansatz, die Wörter, die er gebärden, in Braille lesen und schreiben und zudem lormen konnte, auch lautsprachlich verstehen und aus einer komplexeren akustischen Information heraushören konnte. Die Worte waren ihm bekannt und er verband eine Bedeutung/Vorstellung damit.
Neben der Verbesserung der auditiven Wahrnehmung half Lukas das zusätzliche Anbieten der Schriftsprache zum Äußern von Wünschen, zu einem differenzierteren Strukturieren seines Stunden- und Tagesplans, für Rückblicke auf den Tag in einer Art „Tagebuch“ oder zur Erarbeitung von sachkundlichen Themen.
Spezifik des Vorgehens
- fundierte Diagnostik in den Bereichen visuelle, auditive und taktile Wahrnehmung, insbesondere des bevorzugten Tastmodus mit den Fingerspitzen/Fingerkuppen
- fundiertes Wissen über die Spezifik des Unterrichtsfaches (Schriftspracherwerbs), sodass die relevanten Bereiche entsprechend adaptiert werden können (z. B. „Schreiben“ als Aneinanderreihung von Buchstaben in einer bestimmten, festgelegten Reihenfolge, welche auch durch Kletten von Braillebuchstaben erfolgen kann)
- fundiertes Wissen über die Spezifik im Schriftspracherwerb in den Förderschwerpunkten Sehen (z. B. Aufbau des Braillesystems) und Hören (z. B. fehlende Phonem-Graphem-Zuordnung), welches Adaptationen (z. B. Brailleleisten zur Verdeutlichung der Tastenkombinationen) ermöglicht
- fundiertes Wissen über Hilfsmittel und Materialien, die genutzt werden können, aber meist einer entsprechenden Adaptation bedürfen (z. B. Adaptation der Taststraße)
- spezifische Herangehensweisen: z. B. Betrachtung von Braillebuchstaben zunächst als Muster (ohne Bedeutung), Ganzwörter als sinntragende Elemente, obwohl eine Simultanerfassung (wie in der Schwarzschrift) beim taktilen Erfassen nicht möglich ist, Lormen zur Analyse der Buchstaben innerhalb eines Wortes
Taubblindenspezifische Didaktik ist erforderlich
Das Beispiel des Schriftspracherwerbs bei einem Schüler mit Taubblindheit verdeutlicht sehr gut, dass es einer spezifischen Herangehensweise bedarf.
Dies ist nur ein Beispiel von mehreren, die im bald erscheinenden Didaktikbuch „Wie kannst Du dies am besten lernen“ aufgezeigt werden.
Didaktikbuch
Aufbau
Das Buch umfasst 34 Artikel. Ausgehend von taubblindenpädagogischen Aspekten werden die Artikel den Unterrichtsfächern sowie den Bereichen „Grundsätzliches“ (dazu gehören: Diagnostik, Kommunikation, Lebensweltbezug, Orientierung und Mobilität), Erwachsenwerden und Teilhabe (dazu gehören auch die Bereiche Inklusion und Elternperspektive) zugeordnet.
Abbildung 5: Übersicht über die Unterrichtsfächer und die weiteren Bereiche des Didaktikbuches
Resümee
Anhand der Artikel wird deutlich, dass es Aspekte gibt, die immer wieder auftauchen, sodass sich daraus der Hinweis auf eine Fachdidaktik ergeben könnte, z. B.:
- Grundlegend für alle didaktischen Überlegungen ist eine fundierte Diagnostik, die neben den Bereichen Sehen und Hören auch weitere Bereiche, z. B. das Tasten oder das taktile Arbeitsgedächtnis, umfasst.
- Methodisch-didaktische Überlegungen beruhen sowohl auf taubblindenpädagogischem Wissen, aber auch auf dem Wissen der Spezifik eines Unterrichtsfaches.
- Optimale Rahmenbedingungen (gute Akustik, Beachtung von Low-Vision-Kriterien, entsprechende Positionierung …) sind die Voraussetzung für gelingendes pädagogisches Handeln.
- Der Einsatz von Hilfsmitteln aus den Förderschwerpunkten Hören, Sehen, körperlich-motorische Entwicklung und geeignete Adaptationen ermöglichen erst optimale Wahrnehmung und somit Lernen.
- Der Aufbau einer stabilen Beziehung, das Zutrauen in die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler und damit eine taubblindenpädagogische Grundhaltung bilden das Fundament pädagogischer Prozesse.
- „Visualisierung“ und „Verbalisierung“ sind – trotz Beeinträchtigung der visuellen und auditiven Wahrnehmung – wichtige Grundprinzipien, die an die vorhandenen Wahrnehmungsmodalitäten angepasst und dementsprechend modifiziert werden müssen.
- Handelndes Lernen, im Mit-Erleben-Lernen und Aktiv-Werden bilden die Grundlage, um mentale Vorstellungen zu entwickeln und zu erweitern.
- Geeignete Lernangebote zu entwickeln, erfordert viel Kreativität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.
Zusammenfassung
Erst das Wissen um eine fachdidaktische Spezifik und um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Aneignungsprozessen zwischen Schülerinnen und Schülern mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung und hörend-sehenden Schülerinnen und Schülern ermöglicht – im Rahmen eines multiprofessionellen Netzwerks – eine weitestgehende Unabhängigkeit von Schulart und Schulort und somit Inklusion.
Wenn didaktisch-methodische Überlegungen im Hinblick auf eine Taubblindenspezifik erfolgen und somit beispielsweise der Methoden- und Medieneinsatz oder der Umgang mit Modellen überdacht werden, kann dies nicht nur einen positiven Effekt auf die pädagogische Situation von Schülerinnen und Schülern mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung haben, sondern auch die allgemeine Pädagogik und Didaktik nachhaltig bereichern.
Abbildung 6: Flyer zum bald erscheinenden Didaktikbuch der Edition Bentheim
Andrea Wanka
Professorin für Bildung und (Früh-)Förderung bei schweren Kommunikationsbeeinträchtigungen an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Beate Schork
Sonderschullehrerin, Stiftung St. Franziskus, Heiligenbronn