„LET ME IN“
Globale Bildungskampagne von Deafblind International DbI – samt positiven Auswirkungen in der Schweiz
Einleitung
Deafblind International DbI (https://www.deafblindinternational.org) ist zusammen mit der World Federation of the Deafblind (WFDB) (https://wfdb.eu) DAS weltweite Netzwerk rund um Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit.
Zu den wichtigsten Projekten von DbI gehört die laufende Bildungskampagne LET ME IN. Sie inspiriert weltweit, fokussiert dabei auf 23 Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika und ist dort relevant für über 5,8 Millionen betroffene Kinder, ihre Familien und fachlichen Bezugspersonen.
„LET ME IN“ hat auch positive Auswirkungen in der Schweiz. Beginnen wir aber mit der Ausgangslage.
Ausgangslage
Die beiden Weltberichte der WFDB (WFDB 2018, WFDB 2023) haben deutlich gezeigt, dass Kinder mit Hörsehbeeinträchtigung leider oft „zurückgelassen“ werden. Der 2. Weltbericht (WFDB 2023) wertet dabei UNICEF-Daten aus für Kinder und Jugendliche von 2 bis 17 Jahren aus 36 Ländern und allen Kontinenten. Über alle Länder hinweg zeigen die Daten für die betroffenen Kinder u. a. eine schlechtere Gesundheit, Kontextprobleme von Geburt an und einen krassen Ausschluss von Bildung. Über alle erfassten Altersgruppen hinweg sind nämlich gerade mal 14 % überhaupt Teil ihres jeweiligen Bildungssystems – enorme 86 % also nicht.
Abbildung 1: „Enrollment in Education“, aus dem 2. Weltbericht der WFDB
Dabei stellt der 2. Weltbericht auch ein deutlich höheres Vorkommen von Kindern mit Hörsehbeeinträchtigung fest als die letzte wissenschaftliche Mindestschätzung für Deutschland von Lang, Keesen und Sarimski (2015), die bei 0,01 % lag. Für alle Formen von Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit errechnet der Weltbericht gemäss Daten im Anhang für alle 36 Länder gemeinsam eine Prävalenz von 0,85 %. Dabei liegt die Prävalenz bezüglich Weltbank-Einkommensstatus der ausgewerteten Länder (low-income, lower middle-income, upper middle-income) im Bereich von plus/minus 15 %: Am höchsten in der Gruppe der „low-income“-Länder mit 1,01 %, am tiefsten in jener der „lower middle-income“-Länder mit 0,71 %. Deutlich variiert die Prävalenz hingegen in Bezug auf die geographische Region der Länder (Zentral- & Südasien, Ost- & Südostasien, Lateinamerika & Karibik, Nord- & Westafrika, Nordamerika & Europa, Ozeanien, Subsahara-Afrika). Sie ist mit 0,29 % am tiefsten in Nordamerika & Europa und am höchsten mit 1,05 % in Ost- und Südostasien sowie in Lateinamerika & Karibik und mit 1 % in Subsahara-Afrika.
Unveröffentlichte Daten aus einem DbI-Fragebogen aus den Jahren 2023 und 2024 ermöglichen einen genaueren Blick auf die Situation der betroffenen Kinder in Süd- und Südostasien, Afrika und Lateinamerika & Karibik. Die Antworten zeigen einen enormen Bedarf. Es fehlt an statistischen Daten, an Früherkennung und spezialisierter Frühförderung, an spezifisch geschultem Personal, spezialisierten Dienstleistungen, bedarfsgerechter Beschulung mit angepassten und erweiterten Lehrplänen, an klaren Strategien zur Versorgung mit unterstützenden Technologien und an Ausbildungsangeboten für den Arbeitsmarkt nach der Schulzeit.
Die Situation verstößt eindeutig gegen alle internationalen Rechte, insbesondere gegen das Recht auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, wie es im UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (1989) und im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006) verankert ist.
Die Globale Bildungskampagne von DbI
Die Globale Bildungskampagne von DbI reagiert genau auf diese Ausgangslage und fordert die sofortige Erfüllung des Rechts auf Bildung von ALLEN Kindern mit Hörsehbeeinträchtigung, Taubblindheit und verwandten mehrfachen Behinderungen. Die Kampagne wurde Ende 2022 in Kairo lanciert und wird in enger Zusammenarbeit mit der WFDB geführt.
Die Kampagne arbeitet auf der Grundlage der erhobenen Daten, mit einem Bottom-up- und Top-down-Ansatz sowie einem starken Netzwerk auf mehreren Ebenen. Es gibt einen globalen Ausschuss, drei regionale Komitees und nationale Führungsteams, je mit Personen mit und ohne Hörsehbeeinträchtigung.
Abbildung 2: Logo der Bildungskampagne von DbI
Nach einem ersten Kampagnenjahr der Vernetzung auf allen Ebenen wird 2024 in den drei Schwerpunktregionen eine Forschungsinitiative ausgeschrieben. Sie wird EUR 15 000 für 30 Forschungsprojekte rund um Bildung von Kindern mit Hörsehbeeinträchtigung bereitstellen, die von einem internationalen Gremium von Expertinnen und Experten begleitet und unterstützt werden. Die Ergebnisse werden auf der nächsten gemeinsamen Weltkonferenz von DbI und WFDB im Juli 2027 in der Schweiz vorgestellt.
Bis dahin sind Regionalkonferenzen geplant: Im Jahr 2025 die 1. DbI-Regional-Konferenz für Asien im März in Nepal sowie die 1. Konferenz des Afrika-Netzwerks von DbI im November in Ägypten. 2026 ist wieder eine Konferenz in Lateinamerika vorgesehen, nach einer sehr erfolgreichen Tagung an der Universidad Católica de Córdoba, Argentinien, im Mai 2024.
Auf nationaler Ebene konzentrieren sich die beteiligten Länder ab 2025 auf ein für sie besonders relevantes Projekt in den Bereichen Früherkennung und Frühförderung, Schulbildung, Berufsausbildung oder unterstützende Technologien. Die nationalen Teams tauschen sich dabei regelmäßig regional aus.
Zu ihrer Unterstützung steht neben der fachlichen und organisatorischen Begleitung durch die regionalen Komitees auch eine Online-Sammlung von inhaltlichen Kampagnen-Ressourcen zur Verfügung. Zusätzlich versucht DbI in Zusammenarbeit mit Partner- und Mitgliedsorganisationen sowie Sponsorinnen und Sponsoren finanzielle Unterstützung zu sichern.
Zu erwarten: Nachhaltige Ergebnisse
Die Globale Bildungskampagne schärft weltweit und insbesondere in den Fokus-Regionen und -Ländern das Bewusstsein für Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit und setzt die Bildungs- und Inklusionsrechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen auf die Tagesordnung. Neue nachhaltige nationale und regionale Netzwerke und neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus und für die Fokusregionen werden generiert. Auf nationaler Ebene werden konkrete Fortschritte in einem der von DbI identifizierten Bereiche mit größtem Bedarf erzielt.
All das passt bestens mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der UNO (2015) zusammen, insbesondere mit dem Ziel 4 für inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung, dem Ziel 5 zu Geschlechtergleichheit und dem Ziel 17 zu globalen Partnerschaften.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz deutet leider viel darauf hin, dass rund die Hälfte der gemäss letzter deutscher Mindestschätzung erwartbaren Kinder mit Hörsehbeeinträchtigung nicht als solche erfasst sind und dass von den bekannten Kindern nur eine Minderheit spezialisierte Unterstützung erhält (vgl. Baur 2023).
Dabei ergibt 1 + 1 mindestens 3 bei Hörsehbeeinträchtigung. Es handelt sich um eine eigene und oft überaus komplexe Lage mit diversen Auswirkungen. Eine spezialisierte Unterstützung ist daher notwendig und kann nicht ersetzt werden durch eine womöglich unkoordinierte Summierung mit Angeboten der Audio-, Visio- und der allgemeineren Sonderpädagogik.
Abbildung 3: Logo Deafblind International Dbl
Mit hauptsächlicher Beteiligung durch die Tanne, die Schweizerische Stiftung für Taubblinde, mit Unterstützung vom Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen SZBLIND und von der Fondation Romande SourdAveugles FRSA ist daher dieses Jahr ein neues landesweites Angebot geschaffen worden. Das neue Angebot bietet unter dem Namen DeafBlind Inclusion (https://www.deafblindinclusion.ch) in der ganzen Schweiz spezialisierte Beratung und Kontext-Schulungen an bei Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit ab dem Kindesalter. Damit das Kind und vor allem seine familiäre und die bestehende pädagogische Umgebung vor Ort möglichst inklusiv unterstützt werden können.
DeafBlind Inclusion ist gewissermassen die Schweizer Version der Bildungskampagne von DbI. Und nicht nur in der Schweiz gibt es in diesem Feld zweifellos noch viel Arbeit.
Literatur
Baur, Mirko (2023). Taubblindheit und Hörsehbehinderung im Kindes- und Jugendalter: Klare Hinweise für eine problematische Versorgungslage in der Schweiz. In: blind-sehbehindert 143 (1), 49–55.
Lang, Markus/Keesen, Elisa/Sarimski, Klaus (2015). Prävalenz von Taubblindheit und Hörsehbehinderung im Kindes- und Jugendalter. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 66, 142–150.
UNO (1989): https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights-child (abgerufen am 28.07.2024).
UNO (2006): https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights (abgerufen am 28.07.2024).
UNO (2015): https://unric.org/de/17ziele (abgerufen am 28.07.2024).
WFDB (2018): https://wfdb.eu/wfdb-report-2018/ (abgerufen am 28.07.2024).
WFDB (2023): https://wfdb.eu/wfdb-report-2022/ (abgerufen am 28.07.2024).