Jessica Füssel, Christian Haaß, Julia Usselmann

Haben Sie schon einmal einer fremden Person ins Gesicht gefasst? Von Berührung, Kognition und der Sandwichmitte

Jessica Füssel, Christian Haaß, Julia Usselmann

Die rund 100 Teilnehmenden des Fachtages Taubblindheit konnten am Samstag, den 08.06.24 in Schramberg/Heiligenbronn erfahren, wie sich Taktilität auf das Arbeitsgedächtnis und somit auf das Erweitern kognitiver Leistungen auswirkt. Unter dem Titel „Verborgene Stärken entdecken und entfalten“ widmete sich der Fachtag der Tactile Working Memory Scale (TWMS) – einer itembasierten Bewertungsskala, mit der beobachtbare taktile Verhaltensweisen im Alltag erfasst werden können und somit zum ersten Mal das Treffen einer Aussage über die kognitiven Fähigkeiten von Personen mit Taubblindheit im Fokus steht. Ziel der TWMS ist es, aus diesen Informationen heraus die Lernumgebung der Menschen mit Taubblindheit und Hörsehbehinderung optimierend zu gestalten, Potenziale zu entdecken und individuelle Lernstrategien zu entwickeln.

Um einen Einblick in die Nutzung der TWMS in der Praxis zu geben, wurde die Veranstaltung mit einem Video eröffnet, in dem Eltern und Bezugspersonen von Menschen mit Taubblindheit zu Wort kamen und über ihre Erfahrungen mit der TWMS berichteten.

„Durch den Fragebogen und auch die Auswertung zur TWMS habe ich gesehen, was unser Sohn schon alles kann und auch wo wir ihn noch weiter fördern und unterstützen können, damit er sich besser im Alltag zurechtfinden kann.“ (Zitat Mutter eines Kindes mit angeborener Taubblindheit)

„Die TWMS ist das erste Assessment, wo ich die Richtung der sozial kognitiven Entwicklung gesehen habe. Der Einsatz der TWMS bringt nicht nur für das Kind einen Riesenvorteil, sondern wirkt sich auch auf die ganze Kindergartengruppe aus, wenn man das bei der Arbeit einfach mehr in den Blick nimmt.“ (Zitat Johannes Schork, Erzieher im Kindergarten)

Zusammen mit den Videobotschaften von Mirko Baur (DbI), Prof. Dr. Andrea Wanka (PH Heidelberg) und der Begrüßung durch Andrea Weidemann (Vorständin der Stiftung St. Franziskus) stimmte das Video die Anwesenden gut auf die beiden Fachvorträge ein.

Die fachlichen Hintergründe stellte der Neuropsychologe Dr. Jude Nicholas vor. Der Mitautor der TWMS reiste dazu aus Bergen, Norwegen an und konnte die Teilnehmenden mit viel Charme und Humor an die komplexen neurologischen Grundlagen des taktilen Arbeitsgedächtnisses und seiner Funktionen heranführen. Er betonte dabei, dass es bei der TWMS nicht darum ginge, dezidiert Items anzukreuzen, sondern sie vielmehr als dynamisches Instrument angesehen werden müsse, bei dem das Herzstück die Interventionsplanung ist, die wie bei einem Sandwich die leckere Mitte zwischen den zwei trockenen Brotscheiben – der 1. und 2. Beobachtungsphase – bildet.

Besonders begeisterte seine Sicht auf den Menschen mit Taubblindheit – es gehe nicht um Defizite, sondern um vorhandene, aber teilweise versteckte Potenziale. Beispielsweise sieht er in taktilem Abwehrverhalten eine selektive Taktilität, die genauer betrachtet und dann genutzt werden kann. Spannend war auch der Blick auf die kulturellen Unterschiede, wie Taktilität in der Gesellschaft akzeptiert und gelebt wird. So haben Menschen in Ländern, in denen Körperkontakt Teil der alltäglichen Kommunikation ist, einen natürlicheren Zugang zu körpernaher Kommunikation und Erfahrungen. Da wir in Mitteleuropa doch sehr verhalten sind, was die körperlich-taktilen Zugangsweisen angeht, hat uns der Vortrag von Dr. Jude Nicholas beauftragt, taktile Angebote in den Blick zu nehmen und bewusster einzusetzen. Nur wenn wir Neues ausprobieren, können wir unsere kognitiven Fähigkeiten erweitern. Wieviel Potenzial steckt also darin, das Gesicht einer anderen Person zu befühlen?

Foto mit drei Personen auf einer Bühne. Die linke Frau ist Paula Lanz und übersetzt den Vortrag von Jude Nicholas, der rechts neben ihr steht. Eine Leinwand ganz rechts zeigt die Präsentation.

Abbildung 1: Paula Lanz und Jude Nicholas (Mitte) während des Vortrags „The Tactile Working Memory Scale: on the interplay between assessing and providing strategies to support tactile cognition and communication“ (Quelle: Autorenteam)

Aus Oslo angereist war der Referent des zweiten Vortrags, Dr. Joe Gibson. Er lernte die TWMS vor einigen Jahren in einem Supervisor-Seminar von Dr. Jude Nicholas kennen und etablierte sie an der Diamanten School Oslo, einer Schule für Kinder und Jugendliche mit kongenitaler Taubblindheit. Er gab einen Überblick über diesen Prozess und die Überlegungen, wie die Nutzung der TWMS in Zukunft noch weiter ausgebaut und fest im Curriculum verankert werden kann. Hierbei betonte er immer wieder die Chance, die TWMS im Bereich von Outdoor- und künstlerischen Aktivitäten einzusetzen. Für die Nutzung der TWMS in der Praxis konnte er den Tipp mitgeben, die 20 Items des Beobachtungsbogens nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in zusammenhängende Bereiche zu bündeln. Dadurch können Teilbereiche gezielt eingesetzt und die Alltagstauglichkeit erhöht werden.

Foto von Joe Gibson auf der Bühne. Er gestikuliert, während er hinter einem Rednerpult steht. Rechts von ihm ist eine Leinwand mit der Präsentation zu sehen.

Abbildung 2: Joe Gibson während des Vortrags „TWMS at Diamanten School“ (Quelle: Autorenteam)

Nach dem Mittagessen konnten die Teilnehmenden einen selbstgewählten Workshop besuchen. Die angebotenen Workshops waren auf die unterschiedlichen Lebensphasen von Menschen mit Taubblindheit ausgerichtet sowie auf Interventionsplanung und Orientierung & Mobilität.

Der Workshop Tactile Toddlers (Astrid Borck und Christian Haaß, Stiftung St. Franziskus) richtete sich an den Einsatz der TWMS im frühkindlichen Bereich. Besonderer Fokus lag auf der Adaption der Skala auf die ersten Lebensphasen. Die Teilnehmenden setzten sich mit Praxisbeispielen auseinander und durften anhand eines konkreten Fallbeispiels selbst aktiv werden und den Beobachtungsbogen bearbeiten.

Die schulische Sicht wurde im Workshop TWMS und Schule (Sarah Armbruster und Beate Schork, Stiftung St. Franziskus) beleuchtet. Im Mittelpunkt stand das Zusammenspiel zwischen individueller Diagnostik und anschließender Adaption schulischer Rahmenbedingungen (Weg zum Klassenzimmer, Raumgestaltung, Materialauswahl, Materialgestaltung).

Die Teilnehmenden des Workshops How is the TWMS incorporated into the curriculum (Dr. Jude Nicholas und Dr. Joe Gibson, Diamanten School Oslo) haben einen Einblick in die Implementierung der TWMS in den dortigen Schulalltag bekommen. Der dort praktizierte Goldstandard regte die anschließende Diskussion an, wie man auch in Deutschland die TWMS in das Curriculum einfließen lassen könnte.

Die Tactile Working Memory Scale im Erwachsenenbereich (Alexandra King und Tanja Pfletschinger, Stiftung St. Franziskus) zeigte ebenfalls praxisnah auf, wie die TWMS hilft, kognitive Potenziale zu entdecken sowie für die Ziel- und Maßnahmenplanung – unter Einbeziehung des Schemas der sozial-kognitiven Entwicklung – genutzt werden kann.

Der Workshop Die Interventionsplanung – das Herzstück der TWMS (Paula Lanz, Stiftung St. Franziskus und Trees van Nunen, Kentalis) fokussierte sich auf verschiedene kognitive Lernstrategien und deren Anbahnung und Implementierung im pädagogischen Handeln.

Im Workshop Kompetenzen der räumlichen Orientierung mithilfe der TWMS erkennen (Carolin Malsam und Merle Ruchser, Stiftung St. Franziskus) wurde die Entwicklung der räumlichen Wahrnehmung und das Verständnis für räumliche Beziehungen hervorgehoben. Ein Videobeispiel aus dem schulischen Alltag ermöglichte die Itemanalyse.

Diese vielfältige Workshopauswahl schloss mit einem gemeinsamen Plenum ab, in dem aus allen Workshops ein Leitgedanke geteilt wurde. Nicht nur Dr. Jude Nicholas war beeindruckt über die fachliche Tiefe und Komplexität, die die Auseinandersetzung der TWMS im deutschsprachigen Raum erreicht hat. Verbesserungspotenzial könnte allenfalls darin bestehen, für zukünftige Fachtage mehr als eine Workshoprunde anzubieten, da viele Teilnehmende Interesse an mehreren Themen geäußert hatten.

Foto von einer Kommunikationssituation. Vor der Bühne sitzen 9 Personen. Eine davon spricht in ein Mikrofon, während zwei andere Personen gebärden.

Abbildung 3: Kommunikations-Hochleistungszentrum mit simultaner Übersetzung von Englisch in Deutsch sowie in Gebärdensprache und taktile Gebärdensprache (Quelle: Autorenteam)

Genauso wie die TWMS in einen dynamischen Prozess einbezogen ist, der das gesamte Umfeld des Menschen mit Taubblindheit einbezieht, so ist der gesamte Fachtag als Teamleistung zu bewerten. Dank unserer Wegbegleitungen wie Eltern, Bezugspersonen und Menschen mit Taubblindheit konnten wir in der Vorbereitung und Durchführung auf Beispiele und Erfahrungen aus der praktischen Umsetzung der TWMS zurückgreifen und dadurch allen Teilnehmenden einen praxisorientierten Zugang zur TWMS anbieten.

Für viele Teilnehmende war dies der erste Kontakt mit der TWMS. Durch den Fachtag konnte ihnen ein niedrigschwelliger, gut begleiteter Einstieg geboten werden. Viele erkannten den großen Nutzen, den die TWMS für die Arbeit mit Menschen mit Taubblindheit hat, und gingen motiviert und bestärkt aus dem Fachtag heraus. Aus den Praxiserfahrungen, die im Rahmen des Fachtages thematisiert wurden, wurde klar, dass die Arbeit mit der TWMS ein gutes Netzwerk braucht, um sinnvoll etabliert zu werden und nachhaltig in Curriculum und Entwicklungsplanung der Menschen mit Taubblindheit verankert zu werden. Wir freuen uns darauf, die deutsche Übersetzung von Paula Lanz und Julia Usselmann bald veröffentlicht in unseren Händen zu halten und dem flächendeckenden Einsatz der TWMS im deutschsprachigen Raum einen großen Schritt näher zu sein.

Neben den inhaltlichen Programmpunkten bot der Fachtag viel Zeit für Austausch unter den Teilnehmenden aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien, den Niederlanden und Norwegen. Dabei gab es eine gute Mischung zwischen dem Wiedersehen bekannter Gesichter und der Vernetzung mit neuen Kolleginnen und Kollegen.

Wir freuen uns schon auf den nächsten Fachtag Taubblindheit, ganz nach dem Zitat von Helen Keller: Alone we can do so little, together we can do so much.

Abbildungen

Jessica Füssel

Stiftung St. Franziskus

Jessica.Fuessel@stiftung-st-franziskus.de

Abbildungen

Christian Haaß

Stiftung St. Franziskus

Christian.Haass@stiftung-st-franziskus.de

Abbildungen

Julia Usselmann

Stiftung St. Franziskus

Julia.Usselmann@stiftung-st-franziskus.de