„Finding new ways through expert exchange“ – ein Erasmus+-Projekt
Orientierung und Mobilität für Menschen mit Taubblindheit
Im Juni 2024 war es endlich so weit: Das Team des Erasmus+-Projekts „Finding new ways through expert exchange“ traf sich am Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum Sehen (SBBZ Sehen) der Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn, um das Thema Orientierung und Mobilität (O&M) für Menschen mit angeborener Taubblindheit in den Mittelpunkt zu stellen. Es wurden Fallbeispiele besprochen, Vorträge gehalten und heiß diskutiert. Aber wie hatten es die 12 Teilnehmerinnen aus verschiedenen europäischen Ländern in diesen Seminarraum geschafft?
Wie das Projekt begann
Im Jahr 2021 schrieb Merle Ruchser ihre Masterarbeit zu dem Thema „Orientierung und Mobilität bei Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung“ und entdeckte durch eine systematische Literaturrecherche, dass es zu diesem durchaus wichtigen Thema keine Fachliteratur gibt. Einiges wird aus der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik verwendet und individuell abgewandelt. Allerdings beziehen sich diese Ausführungen hauptsächlich auf Menschen mit Taubblindheit, welche über ein konventionelles Kommunikationssystem wie Lautsprache, Lormen oder (taktiles) Gebärden verfügen. Ist dies nicht der Fall, stellt es für die Praktikerinnen und Praktiker immer eine Herkulesaufgabe dar, die Lerninhalte für jede Klientin und jeden Klienten mit Taubblindheit entsprechend ihrer bzw. seiner Bedürfnisse und Kompetenzen anzupassen und zu vermitteln. Da die Fälle individuell zu handhaben sind, kann auf kein Vormaterial zurückgegriffen werden.
Zeitgleich setzten sich Carolin Malsam und weitere Kolleginnen und Kollegen am SBBZ Sehen der Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn zum Ziel, die Förderung von O&M für ihre Schülerinnen und Schüler mit angeborener Taubblindheit zu verbessern und in den Alltag zu integrieren. Auch sie wurden mit denselben Schwierigkeiten der fehlenden Fachliteratur konfrontiert.
Wäre es nicht unglaublich wertvoll, wenn verschiedene Praktikerinnen und Praktiker sich zu diesem Thema austauschen könnten, sodass alle voneinander lernen? Genau das war die Überlegung, die Merle Ruchser und Carolin Malsam – nun Kolleginnen am SBBZ Sehen – schließlich gemeinsam auf die Idee dieses Projekts gebracht hat.
Während des Jahres 2023 konnten verschiedene Teilnehmerinnen aus vier europäischen Einrichtungen für das Projekt gewonnen werden. Auch zwei Referentinnen aus Nicht-EU-Ländern – Großbritannien und Schweiz – wurden eingeladen, ihre Expertise zu teilen. Die Praktikerinnen setzen sich teilweise bereits seit Jahrzehnten mit dem Thema O&M bei Menschen mit Taubblindheit auseinander und sehnen sich nach einer Möglichkeit zum Austausch mit weiteren Expertinnen und Experten.
Während in Heiligenbronn fleißig an der Antragstellung für das Erasmus+-Projekt gearbeitet wurde, entstand auch der offizielle Titel des Projekts: „Finding new ways through expert exchange – How can teaching of orientation and mobility skills for people with congenital deafblindness be successful in their everyday life?“ (zu deutsch Neue Wege durch Expertenaustausch finden – Wie können die Fähigkeiten im Bereich Orientierung und Mobilität für Menschen mit angeborener Taubblindheit im Alltag erfolgreich vermittelt werden?).
Die teilnehmenden Organisationen und Praktikerinnen
Das SBBZ Sehen der Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn (Deutschland) wurde natürlich als Antragsteller und Organisator des Projekts schon erwähnt. Dies ist eine schulische Einrichtung mit Internat, welche neben dem Förderschwerpunkt Sehen auch Abteilungen für Kinder und Jugendliche mit Taubblindheit im Bereich Schule, Pädagogische Audiologie und Beratungsstelle betreibt. Die Mitarbeitenden beraten und unterstützen Kinder und Jugendliche mit Taubblindheit, deren Familien und Schulen im gesamten Bundesland Baden-Württemberg. Anfangs waren nur die Sonderpädagoginnen Merle Ruchser (Abteilung Schule) und Carolin Malsam (Abteilung Beratungsstelle) in das Projekt involviert. Für das Präsenzmeeting im Juni 2024 konnten auch Monika Fleig und Monika Matt für den internationalen Austausch gewonnen werden. Beide sind neben ihrer internen Arbeit mit Menschen mit angeborener Taubblindheit auch als Rehabilitationslehrkräfte mit Schwerpunkt O&M für Blinde und Sehbehinderte an der Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn tätig.
Auch das Deutsche Taubblindenwerk gGmbH mit Hauptsitz in Hannover (Deutschland) ist in das Projekt involviert. Das Deutsche Taubblindenwerk ist eine Einrichtung für Menschen mit Förderschwerpunkt Sehen und Hören. Es bietet zurzeit eine Schule mit Internat, Wohnheime für Erwachsene, ambulant betreutes Wohnen, die Taubblindentechnische Grundausbildung für Erwachsene (Reha), ambulante Schulungen, Frühförderung und Werkstätten mit Werkstattläden. Die Mitarbeiterin Regina Berg ist Fachkraft für Rehabilitation und tätig in der Taubblindentechnischen Grundausbildung/Reha, vorwiegend im Bereich O&M und Kommunikation. Sie bringt ihre langjährige Expertise sowohl als Teilnehmende als auch als Referentin in das Projekt ein.
Aus Österreich ist das Österreichische Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und Sehbehinderte (ÖHTB) vertreten. Die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen Barbara Latzelsberger, Jana Horkova, Melanie Bork und Maria Grundner bringen ihre Expertise zu dem Thema mit. Das ÖHTB bietet in Wien für erwachsene Menschen mit Behinderungen Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten und eine österreichweite Anlaufstelle mit der Beratungsstelle.
Die niederländische Organisation Royal Kentalis ist ebenfalls vertreten mit der Mitarbeiterin Anke van den Berg. Die Einrichtung unterstützt Menschen, die gehörlos oder schwerhörig, taubblind sowie mehrfach beeinträchtigt sind oder eine Sprachentwicklungsstörung haben, mit vorschulischen, schulischen Bildungsmöglichkeiten sowie Arbeits- und Wohnmöglichkeiten. Die Schule Rafaël ist Teil von Royal Kentalis und eine Schule für taubblinde Schülerinnen und Schüler im Alter von 3 bis 20 Jahren. Derzeit wird diese von 30 Menschen besucht, die über die ganze Niederlande verteilt leben. Anke van den Berg ist Ergotherapeutin und Rehabilitationslehrkraft. Sie arbeitet bereits seit sehr vielen Jahren mit Menschen mit angeborener Taubblindheit in der Schule und im Erwachsenenbereich.
Als Referentin und Expertin zum Thema O&M im Taubblindenbereich konnte Liz Hodges von Sense UK aus Großbritannien gewonnen werden. Sie arbeitet seit über 35 Jahren mit Menschen mit Taubblindheit und ebenso seit vielen Jahren zu dem Thema Orientierung und Mobilität bei Menschen mit Taubblindheit. Auch hat sie zu diesem Thema bereits an der University of Birmingham gelehrt. Liz Hodges lässt uns an ihrem umfangreichen Wissen teilhaben und stellt praxisorientierte Hilfestellungen für die Projektgruppe bereit.
Ebenfalls als Referentin ist Eva Keller von der Tanne – Schweizerische Stiftung für Taubblinde dabei. Die Tanne arbeitet mit Menschen mit angeborener Taubblindheit und ist die einzige Institution dieser Art in der Schweiz. Seit der Gründung 1970 ist die Tanne stetig gewachsen. Heute leben, arbeiten und lernen über 70 Klientinnen und Klienten vom Kleinkindalter bis zum Seniorenalter in der Tanne, begleitet und unterstützt von rund 200 Mitarbeitenden. Zur Tanne gehören auch ein öffentliches Café-Restaurant und ein integrativer Kindergarten für Kinder mit und ohne Behinderungen. Eva Keller arbeitet in der Tanne zum Thema Orientierung und Mobilität und verdeutlicht uns, wie die praktische Umsetzung von Fortbildungsinhalten in ihrer Einrichtung aussieht.
Abbildung 1: „Finding new ways“-Projektgruppe im Juni 2024 (v. l. n. r. Merle Ruchser, Eva Keller, Melanie Bork, Jana Horkova, Liz Hodges, Anke van den Berg, Barbara Latzelsberger, Monika Matt, Monika Fleig, Carolin Malsam, Regina Berg, Maria Grundner)
Bisheriger Verlauf des Projektes
Der offizielle Startschuss im Januar 2024 war für alle Teilnehmerinnen ein großer Meilenstein. Da die Organisationen und deren Mitarbeitende aus den Niederlanden, Deutschland und Österreich sowie der Schweiz und Großbritannien unterschiedliche Schwerpunkte, Professionen und Arbeitsweisen mit in das Projekt bringen, wurden zunächst drei Online-Meetings genutzt, um die jeweils eigene Organisation sowie die bisherige Arbeit zum Projektthema zu erörtern und dadurch eine Grundlage für die weitere Zusammenarbeit zu schaffen.
Der Nutzen dieser Vorarbeit zeigte sich ab der ersten Minute des dreitägigen Präsenz-Meetings (5.–7. Juni 2024), welches durch das SBBZ Sehen der Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn organisiert wurde. Sowohl auf fachlicher als auch auf persönlicher Ebene waren die Teilnehmerinnen direkt auf einer Wellenlänge.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen und einer kurzen Begrüßung startete am Mittwoch Liz Hodges mit ihrem Vortrag über essenzielle Aspekte von Orientierung und Mobilität bei Menschen mit Taubblindheit. Denn ihrer Meinung nach fängt Orientierung und Mobilität nicht erst an, wenn ein Kind beginnt zu laufen, sondern bereits viel früher, wenn es beginnt, seinen Körper und die Umgebung darum wahrzunehmen. Nicht nur der Weg von A nach B, den man mit einem Rollstuhl, mit einem Langstock oder ohne Hilfsmittel zurücklegt, ist ein Journey, also eine Reise, sondern auch schon das intentionale Greifen nach einem Gegenstand, der vor einem liegt, hat schon etwas mit O&M zu tun! Ein Journey wird definiert als etwas, das einen Anfang, ein Ende, ein Ziel und einen Grund hat – so kann man viele kleine Handlungen im Alltag schon als ein Journey bezeichnen, das erste Kenntnisse in Orientierung und Mobilität voraussetzt und somit auch O&M-Kompetenzen fördert (freie Übersetzung aus dem Englischen nach Hodges (2024)).
Neben dem Zusammentragen bestehender und Entwickeln neuer Lehr- und Lernmethoden und Ansätzen gehört der Aufbau internationaler Beziehungen und Entwicklungskooperation zu den definierten Zielen des Projekts. Viel Vernetzungsarbeit innerhalb der Projekt-Gruppe konnte während des Treffens bereits betrieben werden, indem die Teilnehmerinnen sich über ihre Erfahrungen ausgetauscht haben. Jede teilnehmende Organisation hatte ein Fallbeispiel oder fachliche Beiträge aus dem Alltag mitgebracht, welche an den Nachmittagen besprochen wurden. Gemeinsam konnten nächste Schritte für die beobachteten Klientinnen und Klienten diskutiert werden, neue Methoden wurden vorgestellt und individuelle Alternativen erarbeitet.
Am zweiten Tag startete die Projekt-Gruppe mit dem Vortrag von Regina Berg über die Adaption von O&M-Techniken aus der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik für die Arbeit mit Menschen mit Taubblindheit. Wie kann ein Mensch mit angeborener Taubblindheit den Sinn und Zweck eines Langstocks verstehen und den Umgang damit erlernen? Es wurden verschiedene Langstock-Ausführungen sowie auch verschiedene Begleittechniken demonstriert, wie man als Begleiter bzw. Begleiterin den Langstock der Klientin oder des Klienten führen kann. Es wurde aus der Praxis erzählt und direkt im Seminarraum ausprobiert. Das führte selbstverständlich zu ausführlichen Gruppendiskussionen, bei denen jede Teilnehmende die Idee der anderen weiterspann und so viele neue Ansätze erarbeitet wurde.
Nach der Besprechung eines Fallbeispiels am Donnerstagnachmittag gaben Carolin Malsam und Merle Ruchser einen thematischen Einblick in die Grundlagen der Tactile Working Memory Scale (TWMS), ein Assessment-Tool zur Beschreibung kognitiver Fähigkeiten bei Menschen mit Taubblindheit. Denn am darauffolgenden Freitag durfte die Projekt-Gruppe im Zuge des Fachtags zur TWMS, welcher am Samstag, den 8. Juni 2024 in Heiligenbronn stattfand, mit Jude Nicholas und Joe Gibson die Schnittstelle zwischen Orientierung und Mobilität und der TWMS ergründen. In einem gemeinsamen Austausch nach einer Beobachtung von zwei Schülern sind viele interessante Themen aufgekommen, welche über Verknüpfungen zwischen weiteren Themenfeldern und O&M nachdenken ließen. Unter anderem ging es darum, wann eine Entscheidung wirklich eine Entscheidung ist. Was braucht es überhaupt für Vorkenntnisse, damit unsere Klientinnen und Klienten eine Entscheidung wirklich treffen können und wann ist es nur eine Illusion von Selbstbestimmtheit? Dieses Thema ist natürlich auch im Bereich O&M relevant, weil es auch hierbei um Eigenständigkeit und Kontrolle geht. Kompetenzen im Bereich O&M sollen unseren Klientinnen und Klienten das größtmögliche Maß an Selbstständigkeit ermöglichen. In unserer hörend-sehenden Welt bedeutet dies, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit echte Entscheidungen selbst treffen zu können. Das Ziel unserer Arbeit sollte daher sein, dies unseren Klientinnen und Klienten ebenfalls zu ermöglichen.
Ausblick
Das Herzstück des Erasmus+-Projekts werden Hospitationen sein, bei denen sich die teilnehmenden Organisationen zwischen Sommer 2024 und Sommer 2025 gegenseitig besuchen werden. Dabei können sie sich bei der taubblindenspezifischen Arbeit im Bereich Orientierung und Mobilität beobachten, um Erkenntnisse zu erlangen und alltägliche Praktiken zu benennen. Begleitet werden die Hospitationen durch Online-Meetings, in denen der Austausch über die Erlebnisse, Erkenntnisse und weitere Handlungsschritte zwischen den Teilnehmerinnen ermöglicht wird.
Zudem ist für Herbst 2025 ein weiteres Präsenz-Meeting am SBBZ Sehen der Stiftung St. Franziskus in Heiligenbronn geplant, um die Projektinhalte zu reflektieren, Ergebnisse zusammenzutragen und weitere Schritte anzugehen.
Abschließend kann man sagen, dass die teilnehmenden Organisationen viel Energie in dieses Projekt stecken und somit ein erfolgreicher Abschluss fast schon garantiert ist. Vor allem das Projektziel der Vernetzung ist schon jetzt gelungen! Die Teilnehmerinnen sehen dem bevorstehenden Teil des Projekts schon freudig entgegen und sind sich sicher, viele neue Einblicke und Erkenntnisse zum Thema Orientierung und Mobilität bei Menschen mit Taubblindheit erlangen zu können und diese mit ihren jeweiligen Kolleginnen und Kollegen, Klientinnen und Klienten sowie Schülerinnen und Schülern zu teilen.
Maria Grundner
Diplom-Sozialpädagogin
ÖHTB Beratungsstelle für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen
Merle Ruchser
Sonderpädagogin
Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn SBBZ Sehen