Tagung der AG Psychologie: „Planet Autismus“
Menschen mit anderen Wahrnehmungen verstehen und erreichen
Vom 26.-28.04.2024 fand in Marburg eine Tagung der AG Psychologie zum Thema Autismus statt. Nach über 20 Jahren (2001 in Stuttgart) luden wir wieder zu diesem Thema ein und mit über 60 Teilnehmenden war es die größte Tagung der AG Psychologie überhaupt. Somit hat das Thema Autismus den Nerv der Zeit getroffen. Die Teilnehmenden kamen – im Gegensatz zu früheren Tagungen – auch aus allen Berufsgruppen, die sehbehinderte und blinde Menschen sowohl in inklusiven als auch in stationären Einrichtungen fördern.
Abbildung 1: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung
Den Eröffnungsvortrag hielt Frau Prof. Dr. Inge Kamp-Becker aus Marburg zum Thema „Diagnostik bei Autismus-Spektrum-Störung“. Ein besonderes Anliegen war ihr die Sensibilisierung für die Verantwortung bei der Diagnosestellung von Autismus und Autism-like Traits (autismus-ähnliche Eigenschaften), die oft ähnlich erscheinen, aber deutlich anders zuzuordnen sind. Hier ist eine fundierte Diagnostik aus ihrer Sicht von großer Bedeutung. Allerdings wies die Referentin auch darauf hin, dass ein Großteil der differentialdiagnostischen Verfahren für Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit nicht geeignet ist.
Besonders interessant für uns waren die Ausführungen von Frau Prof. Dr. Kamp-Becker zur Symptomüberlappung zwischen Autismus und visueller Beeinträchtigung/Sehbehinderung, die sich auf die Einschränkungen in den sozial-kommunikativen Verhaltensweisen und repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen (eingeschränkte Interessen, Manierismen etc.) bezogen, die die Diagnostik und Differenzierung erschwert. Dadurch besteht ein hohes Risiko für falsche Diagnosen. Allerdings werden die Unterschiede im Entwicklungsverlauf deutlich. So profitieren Autism-like Traits im Rahmen von Sehbehinderung mehr von Fördermaßnahmen und zeigen z. B. mehr Fortschritte in der Sprachentwicklung und Kommunikation sowie eine Reduktion der Symptomatik.
Für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung gab es in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Erklärungsansätze, inzwischen geht man aber ziemlich übereinstimmend von einer genetisch bedingten neuronalen Entwicklungsstörung aus.
Hauptmerkmale sind Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg sowie Stereotypien oder repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich störend auf andere Aktivitäten in sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen auswirken. Die Symptome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen. Deswegen stellt sich eine Diagnosestellung im Erwachsenenalter oft als schwierig dar.
Frau Prof. Dr. Kamp-Becker wies darauf hin, dass in den Medien der Fokus zumeist auf Personen mit „high-functioning“ Autism/Asperger Symtom liegt, mit einer besonderen Begabung, fotografischem Gedächtnis oder Detail-Wahrnehmung (à la Rain Man), und nicht das gesamte Spektrum der Autismus-Spektrum-Störung erfasst, zu dem auch schwer beeinträchtigte, meist nicht sprechende Personen und Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen gehören.
In diesem Zusammenhang thematisierte sie auch den gravierenden Unterschied zwischen gestützter Kommunikation – dabei stützt ein Helfer das nicht sprechende Kind an der Hand, der Schulter oder am Arm, während es auf eine Buchstabentafel zeigt oder eine Tastatur bedient, um so Worte und Sätze zu bilden – und unterstützender Kommunikation. Diese umfasst alle Kommunikationsformen, welche die Lautsprache ergänzen oder ersetzen, wie z. B. Gebärden, Handzeichen oder Symboltafeln, Fotografien.
Bei der gestützten Kommunikation „schreibt“ oder „übersetzt“ eine andere Person stellvertretend die Äußerungen des autistischen Menschen. Dabei wird oft kritisiert und auch wissenschaftlich nachgewiesen, dass es sich bei den Äußerungen um Texte handelt, die von der übersetzenden Person und nicht vom autistischen Menschen generiert werden.
Mit diesen umfangreichen Informationen zur Autismus-Diagnostik bot Frau Prof. Kamp-Becker eine gute Grundlage für die nachfolgenden Vorträge und Workshops.
Am Abend wurde der Film Sandmädchen gezeigt, ein besonderes Beispiel für gestützte Kommunikation durch die Mutter, der aufgrund der oben angeführten Problematik zu einer lebhaften Diskussion führte.
Herr Dr. Werner Hecker von der blista stellte in seinem Beitrag „Sehbehinderung und Autismus-Spektrum-Störung“ folgende Fragen in den Mittelpunkt: „Wie sind die Verhaltensähnlichkeiten zwischen blinden Kindern und Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung?“, „Haben blinde Kinder häufiger, zusätzlich zur Blindheit, ASS?“, „Ist Blindheit bzw. ein beeinträchtigtes Sehvermögen selbst ein Risikofaktor für eine ASS?“.
Bei blinden Kindern können folgende „autismus-ähnliche“ Verhaltensweisen auftreten: Bewegungsstereotypien, Verzögerung im Erwerb des Symbolspiels, echolalische, formelhafte Sprache, Pronomenverwechslungen: Ich-Du-Vertauschungen, eingeschränktes Spiel mit Gleichaltrigen/Etablieren von Freundschaften, gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung, Einhalten/„Kleben“ an Routinen/Abläufen.
Im letzten Teil seines Vortrags ging Herr Dr. Hecker ausführlich darauf ein, welche Merkmale blinde Kinder mit und ohne ASS unterscheiden, wie z. B. angemessene Responsivität in sozialen Situationen, weniger/keine Aggression sowie weniger/kein selbstverletzendes Verhalten.
Die Autonomieentwicklung bei Menschen im Autismus-Spektrum war das Thema des Vortrags von Frau Zuzana Rosch, Autismus-Therapeutin aus Reutlingen. Sie berichtete von wissenschaftlichen Studien und praktischen Erfahrungen, die zeigen, dass trotz guter kognitiver Fähigkeiten Menschen im Autismus-Spektrum nicht dasselbe Ausmaß an beruflicher und gesellschaftlicher Inklusion erleben wie neurotypische Menschen im gleichen Alter. Folgende Auffälligkeiten im Erwachsenenalter spielen dabei eine Rolle: die Art der Kommunikation und der Sprache, fehlende soziale und berufliche Einbindung, geringere Lebensqualität, vorzeitiges Altern/kognitiver Abbau.
Die Grundlage hierfür findet sich bereits im Kleinkindalter bei der Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenzen. In den Bereichen Blickkontakt (soziales Lernen), soziale Bezugnahme/Aufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit, kooperatives Spiel/Symbolspiel finden sich Auffälligkeiten, wie auch repetitive Handlungen mit Objekten und das Nicht-Reagieren auf den eigenen Namen. Sie dienen als Marker („Red Flags“) für die Früherkennung von Autismus. Die Fähigkeit zur Emotionsregulation und die Wahl sozial angemessener Handlungsstrategien beginnt im Vorschulalter und stellt besonders in der Pubertät eine wichtige Entwicklungsaufgabe dar, die bei Menschen mit ASS deutlich erschwert ist.
Im weiteren Verlauf des Vortrags stand die Autonomieentwicklung von Kindern im Autismus-Spektrum (Asperger-Syndrom/hochfunktional) im Vordergrund, bei denen eine Diskrepanz zwischen kognitiver und emotionaler Entwicklung zu beobachten ist.
Bei diesen Jugendlichen gestaltet sich der erfolgreiche Übertritt ins berufliche Leben als besonders schwierig. Wichtige Voraussetzungen für ein Gelingen sind die Fähigkeit, sich eigene Ziele zu setzen und diese zu verfolgen sowie exekutive Funktionen, wie sich organisieren zu können, systematisch und flexibel handeln zu können, aber auch die emotionale Regulation, wie Gefühle zu bewältigen und der Umgang mit Stress.
Den Abschluss des Vortrags bildeten dann praxisorientierte Hinweise, wie autistische Kinder und Jugendliche auf dem Weg ins Erwachsenenalter unterstützt werden können, z. B. das Einnehmen einer „empathisch neugierigen Haltung des Nicht-Wissens“, einer inklusionsfördernden Kommunikation (Was steht dir im Weg?, Was brauchst du, um … ?), und auch der Hinweis, den Betroffenen ausreichend Zeit für die Entwicklung ihrer Reaktion zu geben. Hierbei bezog sie auch Elemente des TEACCH-Ansatzes (Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children) ein.
In einem Hybrid-Workshop informierten Herr Joachim Vollmer und Frau Julia Münter, Sonderpädagoge und Sonderpädagogin der Nikolauspflege Stuttgart, über die Entstehung und Arbeit des dortigen Autismus-Teams. Dabei führten sie aus, dass sich aufgrund der Zunahme von Schülerinnen und Schülern mit Autismus in der Nikolauspflege Stuttgart zunächst ein Team aus Lehrkräften aus den berufsbildenden Schulen bildete. In kurzer Zeit kamen weitere Berufsgruppen (Erzieherinnen und Erzieher, Ausbilder und Ausbilderinnen, Reha-Lehrkräfte sowie Psychologinnen und Psychologen) hinzu, sodass ein Fachteam, das sogenannte „A-Team“, entstand. Die regelmäßig stattfindenden Treffen dieser Personengruppe in Hybridform dienen dem Erfahrungsaustausch, der Beschaffung von hilfreichen Materialien (Stellwände, Igelbälle usw.), die ausgeliehen werden können, und auch der Weitergabe von Fortbildungsinhalten zum Thema Autismus. Inzwischen gibt es auch die Möglichkeit, Kolleginnen und Kollegen eine Fallbesprechung anzubieten. Die Vorstellung des A-Teams diente als Anregung für andere Einrichtungen und wurde in diesem Sinne anschließend im Plenum diskutiert.
Frau Sarah Weber von AutisPlus thematisierte in ihrem Workshop den Umgang mit Stress und Krisenbewältigung bei blinden und sehbehinderten Menschen mit Autismus. Dabei stellte sie heraus, dass bei sehbehinderten, autistischen Kindern weitere spezifische Herausforderungen durch einen Mangel an Umweltinformationen sowie einer Wahrnehmungs- und Verarbeitungsproblematik entstehen, und dass das bereits hohe Anspannungslevel bei Kindern mit Autismus zusätzlich durch die Sehbehinderung/Blindheit gesteigert wird.
Bei einem „Zuviel“ an inneren und/oder äußeren Reizen und der daraus resultierenden Anspannung erleben die Kinder einen sensorischen Overload (Reizüberflutung, überwältigende Situation) und müssen ihn regulieren, um keinen Meltdown zu erleben. Zur Regulation steht ihnen der visuelle Sinn nicht oder nur begrenzt zur Verfügung, was zusätzlichen Stress verursacht. Unter einem Meltdown versteht man eine Panikattacke, d. h. ein Entladen des autonomen Nervensystems als Reaktion auf einen nicht-regulierten Overload bzw. eine ständige Anspannung/Dysregulation (z. B. Schreien, Beleidigen, Fremd- und Eigenaggression).
Von einem Shutdown spricht man bei einer nach innen gerichteten Reaktion auf einen Overload, z. B. keine Ansprechbarkeit, Rückzug in sich selbst, sich nicht mehr bewegen können. Zentral ist, wie die Bezugspersonen auf eine solche Krise (Reizüberflutung) reagieren, co-regulierend oder „aufputschend“! Folgende Strategien haben sich dabei als hilfreich erwiesen: grundsätzlich ein unaufgeregter Umgang, wie z. B. kein Blickkontakt, keine Berührungen, wenig sprechen (ruhig und entspannt), nachgeben oder warten, Bezugsperson wechseln, körperliche Distanz herstellen, kein direktes Gegenüber, lieber seitlich, mit einer anderen Person über etwas anderes sprechen, Ablenkungsmanöver.
Zusätzlich benannte Frau Weber Strategien zur präventiven Vermeidung solcher Krisensituationen. Sehr zentral ist die Reduktion von sensorischem und emotionalen Overload durch das Ermöglichen von Vorhersehbarkeit und Kontrolle im Alltag. Konkret bedeutet dies, viel Zeit für Übergänge und Trennungssituationen einzuplanen sowie den Aufbau einer Beziehung zu den neuen Ansprechpartnern zu ermöglichen. Reduktion von Druck und Anforderungen, die möglichst an das individuelle Tagesniveau und die Ressourcen angepasst werden sollten.
Hilfreich für sehbehinderte/blinde Kinder und Jugendliche mit ASS sind eine gut strukturierte und übersichtliche Gestaltung der Umwelt bezüglich Zeit, Raum, Aktivitäten/Abläufen sowie Kontakten/Begegnungen mit anderen. Auch sie stellte Elemente des TEACCH-Konzeptes vor.
Das Fazit von Frau Weber war, dass besonders für blinde/sehbehinderte autistische Kinder Struktur und Vorhersehbarkeit extrem wichtig sind, um nicht ständig überreizt und handlungsunfähig zu sein.
Frau Dr. Anika Langmann vom Marburger Institut für Autismusforschung und Therapie (MarIAT) gab einen interessanten Einblick in die therapeutische Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus, besonders auch in die Gruppentherapie. Sie stellte eine Vielzahl konkreter Methoden und Schritte in der therapeutischen Arbeit mit autistischen Kindern vor und erläuterte diese detailliert anhand konkreter Fallbeschreibungen. Hierbei sind sowohl die Familien als auch die sozialen Kontexte eingebunden. Leider gibt es solche speziellen und fundierten Angebote, die sehr hilfreich für die schulische und berufliche Integration von Menschen mit ASS sind, ausgesprochen selten.
„Bewegungsstereotypien verstehen“ war das Thema von Frau Dipl.-Psych. Mechthild Gahbler aus Nürnberg. Hier lag der Schwerpunkt zunächst auf der Darstellung und Einordnung der unterschiedlichsten Erklärungskonzepte. Das Verstehen der Sinnhaftigkeit dieser Verhaltensbesonderheit bei blinden Menschen und bei Menschen mit Autismus führte sie dann zu der Frage der Vergleichbarkeit, aber auch den Unterschieden des Phänomens bei den beiden Personengruppen und der Frage, wie sich eine Kombination von Blindheit und Autismus im Hinblick auf stereotype Bewegungsmuster verstehen lässt.
Frau Cathleen Päßler und Frau Nadja Gehre aus dem Fachdienst Autismus vom Berufsbildungswerk SFZ Förderzentrum Chemnitz stellten die Adaption des TEACCH-Konzepts für die Ausbildung von sehbehinderten/blinden Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Chemnitzer Einrichtung vor. Als Grundlage ihres Vortrags wählten sie die Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von OVI (Ocular Visual Impairment – Sehschwäche, Sehbehinderung), CVI (Cerebral Visual Impairment – cerebrale Sehbehinderung) und AS (Autismus-Spektrum).
Sie hatten eine Vielzahl von verschiedenen Materialien im Gepäck, die der Strukturalisierung und Visualisierung im Alltag dienen. Von der räumlichen Gestaltung (z. B. Einteilung in überschaubare Bereiche und Hilfen zur Verhaltensorganisation, Reizabschirmung, Sitzordnung, Nähe zu Tür/Fenster/Toilette etc.) bis zu Visualisierungen zeigten sie praktische Beispiele (z. B. Sanduhren mit unterschiedlichen Zeiten; individueller Stundenplan zur Einteilung der Arbeitszeit; Foto einer Schublade für Arbeitsmaterial zum Nähen oder Küchengeräte zum Schälen).
Sie erläuterten Instruktionen, um die Materialien in geeigneter Form anzubieten, und Routinen für die Einübung genereller Handlungsmuster, um Veränderungen durchschaubar zu machen, Zusammenhänge zu verdeutlichen, Vorhersehbarkeit herzustellen und Ablenkungen zu minimieren.
Den Abschluss ihres Vortrags bildete die Vorstellung des Methodenkoffers Autismus, der als Instrument in der Umsetzung des TEACCH-Ansatzes jedem Ausbildungs- und Wohnteam zur Verfügung gestellt wird.
Mit diesen praktischen Tipps zur Förderung von sehbehinderten Auszubildenden klang diese äußerst informative und abwechslungsreiche Tagung aus.
Aktuelles aus der AG Psychologie
Im Rahmen der Autismus-Tagung der AG-Psychologie sollten Nachfolger und Nachfolgerinnen für den Vorstand gewählt werden. Leider haben die beiden ursprünglichen Interessentinnen aus persönlichen Gründen ihre Kandidatur zurückgezogen. Somit wurden Mechthild Gahbler und Regina Deckert interimsmäßig von den anwesenden VBS-Mitgliedern in den Vorstand wiedergewählt, mit der Option und dem Wunsch, interessierte Kandidatinnen und Kandidaten, die die Leitung der AG Psychologie übernehmen möchten, einzuarbeiten und zu unterstützen.