Einschätzung der sensorischen Ressourcen von Menschen mit Hörsehbehinderung
Die Tanne stellt sich vor
Vor über 50 Jahren wurde die Tanne, Schweizerische Stiftung für Taubblinde, gegründet und spezialisierte sich mit ihrem Bildungs- und Förderangebot auf Menschen mit angeborener Taubblindheit/Hörsehbehinderung und verwandter, mehrfacher Sinnesbehinderung. Die Tanne ist das Kompetenzzentrum der Schweiz, das sich auf diese Behinderungsart spezialisiert hat. Seit wenigen Jahren werden auch Schüler und Schülerinnen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS), welche vom spezifischen Fachwissen der Tanne profitieren können, aufgenommen.
Die Sonderschule sowie die 3 Wohngruppen für Kinder und Jugendliche bieten 24 Plätze an. Im Erwachsenenbereich stehen 9 Wohngruppen mit je 5–6 Plätzen zur Verfügung. Je nach Lebensalter arbeiten diese Klientinnen und Klienten in einem Atelier der Tagesstätte oder nehmen an den Aktivitäten der Seniorengruppe teil.
Im Verlauf der letzten Jahre ist die Tanne gewachsen. In den mittlerweile vier grossen Gebäuden sind neben den Wohn- und Arbeitsräumen auch eine inklusive Kita, ein Tageshort, ein öffentliches Café, die Schule, die Physio- und Ergotherapie und die Logopädie untergebracht.
Ein wichtiger Meilenstein der letzten Jahre war die Entwicklung der PORTA (Portmann & Tanne)-Gebärden (2017–2023) mit einem Wortschatz von 600 Gebärden für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und mehrfacher (Sinnes-)Behinderung. Die PORTA-Gebärden lassen sich auch taktil anwenden und stossen über die Landesgrenzen hinaus auf grosses Interesse.
Beratung und Unterstützung
Die Tanne investiert viel in die interne Beratung und Unterstützung der Mitarbeitenden, insbesondere auch der Mitarbeitenden, welche die erwachsenen Klientinnen und Klienten betreuen. Zuständig sind geschulte Fachpersonen in den Bereichen Kommunikation und Interaktion sowie Sinneswahrnehmung mit Schwerpunkt Sehen und Hören. Diese Arbeitsstellen umfassen gemeinsam knapp 300 Stellenprozente und werden durch fünf erfahrene Fachpersonen mit langjähriger, praktischer Arbeitserfahrung mit Menschen mit angeborener Hörsehbehinderung und Mehrfachbehinderung abgedeckt.
Bis vor kurzem bot die Fachstelle auch externe Beratung an. Diese wird neu schweizweit über die Firma „Deafblind Inclusion“ vermittelt und organisiert, in Zusammenarbeit mit der Tanne und anderen relevanten Einrichtungen.
Alle Sinne miteinbeziehen
Seit langem werden in der Tanne funktionelle Sehabklärungen (in Deutschland als funktionale Abklärungen bezeichnet) mit den Klientinnen und Klienten jeglichen Lebensalters durchgeführt. Mit der räumlichen Erweiterung der letzten Jahre kam ein Abklärungsraum mit Infrastruktur für Hörabklärungen (Audiometer) hinzu. Zunehmend kamen wir jedoch zur Erkenntnis, dass neben der Abklärung des Hör- und des Sehvermögens ein ganzheitlicher Blick auf alle Sinne eines Menschen notwendig ist, um sein Potenzial bestmöglich kennenzulernen. Zusätzlich zu den beiden Fernsinnen sind dies der Tastsinn, der Gleichgewichtssinn, die Körpereigenwahrnehmung (Propriozeption) sowie der Geruchs- und der Geschmackssinn. Die 7 Sinne beeinflussen sich gegenseitig und interagieren miteinander. Im Betreuungsalltag stellen sich oft Fragen rund um das Potenzial des gesamten Sinnessystems einer Klientin oder eines Klienten. Diese lauten beispielsweise: Welche Materialien wecken die Neugier eines Klienten, und welche Sinne setzt er beim Explorieren ein? Welche sensorischen Reize nimmt eine Klientin wahr? Sind auch die Füsse empfänglich für Materialerfahrungen? So entstand bei uns im Fachbereich Sinneswahrnehmungen die Idee, eine systematische, multisensorische Einschätzung auszuarbeiten. In dieser gehen wir der Frage nach, welches die Eingangstüren zum Sinnessystem eines Menschen sind und über welche Sinneserfahrungen wir seine sensorischen Ressourcen erreichen und anregen können.
Inspirationen aus der Förderdiagnostik
In einem ersten Schritt befassten wir uns mit diversen Ansätzen der Förder-Diagnostik. Nach vertiefter Prüfung wählten wir als Basis für unser Projekt die Ansätze von Jan van Dijk (Nelson, van Dijk, Oster, McDonnell 2009), Fröhlich und Haupt (2004), Rehavista (2014) sowie das Vademecum von Ines Schlienger (Schlienger 2020) aus. Auch die langjährige Arbeit des Taubblinden-Pädagogen David Brown hat uns sehr inspiriert. Diese Fachliteratur gab uns Leitlinien in Bezug auf wichtige Beobachtungsaspekte sowie einen sinnvollen Ablauf der Angebote.
Materialsammlung
Danach befassten wir uns mit der Wahl geeigneter Gegenstände. Wir suchten gezielt Materialien, welche entweder einen spezifischen Sinn oder eine Kombination verschiedener Sinne ansprechen. Es entstand ein Materialturm auf Rädern mit fünf Etagen.
Bezugsobjekt, taktile Gebärde und Sprechgesang
Abbildung 1: Das Bezugsobjekt der multisensorischen Einschätzung
Eine weitere Aufgabe bestand darin, ein Bezugsobjekt zu kreieren, das dem Klientel Hinweise auf die Aktivität „multisensorische Einschätzung“ geben soll: An einem Ring sind kleine Materialien angebracht (Feder, Schelle, Bürste), die in dieser oder einer anderen Grösse in der multisensorischen Einschätzung eingesetzt werden können. Ebenso Teil des neuen Bezugsobjektes sind unsere taktilen Personenzeichen, weil wir es sind, welche die Einschätzung in Interaktion mit dem Klientel durchführen (Abb. 1).
Neben dem Bezugsobjekt entwickelten wir für die multisensorische Einschätzung auch eine neue Gebärde, die sich bei Bedarf taktil ausführen lässt. Man klatscht dabei in die Hände, führt die Hände dann in einem grossen Kreis auseinander, um sie in der Mitte zum erneuten Klatschen wieder zusammenzuführen. Als weiteres Zeichen für die „multisensorische Einschätzung“ begleiten wir diese Gebärde mit einem melodischen Sprechgesang: „Ausprobieren, Neues machen“. Bezugsobjekt, Gebärde und Sprechgesang fungieren am Anfang und am Ende der multisensorischen Einschätzung als Wiedererkennungsritual.
Ablauf der multisensorischen Einschätzung
Unsere Wahl einer Klientin oder eines Klienten für eine multisensorische Einschätzung treffen wir im Austausch mit der entsprechenden Wohngruppe. Das Wichtigste dabei ist, eine motivierte Projektpartnerin oder einen motivierten Projektpartner aus dem Pool der Betreuungspersonen zu finden, um das Projekt während mehrerer Monate gemeinsam durchzuführen. Auch Therapeutinnen oder Eltern sind je nach Möglichkeit oder Bedürfnis an den Vorgesprächen beteiligt. Selbstverständlich vertiefen wir uns auch in die vorhandenen Berichte zu den Sinnesressourcen der ausgewählten Person.
Die multisensorische Einschätzung besteht aus 6 Sequenzen, welche je nach Konzentrationsmöglichkeit der Klientin oder des Klienten 30 bis 60 Minuten dauern. Mehr dazu im nächsten Abschnitt.
Nach den 6 Sequenzen mit dem Klienten oder der Klientin beginnt die Nachbearbeitungsphase. Zeitnah werten wir alle gemachten Videoaufnahmen aus und notieren die aussagekräftigsten Stellen. Diese diskutieren wir anschliessend zu dritt – zusammen mit dem Partner oder der Partnerin der Wohngruppe – in einer ca. zweistündigen Videoanalyse. Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass wichtige Ressourcen oft erst beim mehrmaligen Betrachten der Filmsequenzen erkannt werden. Die Ergebnisse der gemeinsamen Videoanalyse halten wir in einem 3- bis 5-seitigen Bericht fest und stellen sie an einer Abschlusssitzung mit dem involvierten Personenkreis zur Diskussion. Das Gespräch endet mit Empfehlungen für die weitere Vertiefung im Alltag. Je nach Erkenntnissen aus der multisensorischen Einschätzung folgen darauf eine detaillierte Low Vision- und/oder Hörabklärung.
Inhalt der multisensorischen Einschätzung
Die multisensorische Einschätzung findet in einem reizarmen Raum mit sehr wenig Mobiliar statt. Inspiriert durch die förderdiagnostische Fachliteratur haben wir einen Ablauf entwickelt, den wir aber selbstverständlich an die gegebenen Umstände in einer konkreten Situation anpassen. Als Einstieg vorgesehen ist eine erste Sequenz, während der wir die Reaktionen der Person auf auditive, visuelle und andere Reize beobachten. Dabei treten wir noch nicht in Interaktion. In einem nächsten Schritt nehmen wir Kontakt auf. Gemeinsam erkunden wir das Bezugsobjekt und führen die Gebärde ein, begleitet vom dazugehörigen Sprechgesang. Danach bieten wir der Klientin oder dem Klienten ausgewählte, geeignete Materialien aus unserem Fundus an.
Dabei geht es stets um eine spielerische Exploration des Materials, die uns erlaubt zu beobachten, welche sensorischen Reize eine Person wahrnimmt und mit welchen Sinnen sie selber exploriert. Während der ersten Sequenzen verwenden wir in der Regel monosensorische Angebote, in den späteren Sequenzen machen wir zunehmend multisensorische Angebote.
Abbildung 2: Ein monosensorisches Materialbeispiel für den taktilen Sinn: Vier Holzwalzen mit unterschiedlichem Relief
Abbildung 3: Ein multisensorisches Materialbeispiel für mehrere Sinne: Der vielfarbige Octopus, dessen Kopf zum Vibrieren gebracht werden kann
Beispiele für monosensorische Angebote sind:
- Taktiler Sinn: mehrere Holzwalzen mit unterschiedlichem Relief (Abb. 2)
- Propriozeption: Stoffsterne mit unterschiedlich schwerem Material gefüllt, zum Beispiel Watte, Reis, Kirschkernen. Die Sterne legen wir der Klientin oder dem Klienten auf Schulter, Füsse oder Beine und beobachten die Reaktion und den Krafteinsatz, falls die Person die Stoffsterne wahrnimmt, danach greift und vielleicht wegwirft.
Beispiele für multisensorische Angebote sind:
- Ein kräftig oranger Ball mit Löchern und eingefasster Schelle
- Zwei Bettflaschen, die eine in rotem Anzug und mit warmem Wasser gefüllt, die andere blau und kühl (bei blinden Personen ist dies ein monosensorisches Angebot).
- Ein grosser, vielfarbiger Octopus aus Stoff, auf blauem Untergrund, und mit einer Ziehschnur versehen, die ihn zum Vibrieren bringt (Abb. 3)
Über alle Sequenzen hinweg ist eine von uns stets die Interaktionspartnerin, die andere bleibt im Hintergrund und filmt das Geschehen. Die Betreuungsperson der Wohngruppe ist als verlässlicher Anker für die Klientin oder den Klienten in der Nähe und kommt bei Bedarf dazu. Wir beenden jede Sequenz mit einem positiven Abschluss und gehen bewusst nicht an die individuellen Grenzen der Konzentrationsfähigkeit.
Nachhaltigkeit
Die Erkenntnisse der multisensorischen Einschätzung sollen sich im Team der Betreuenden nachhaltig etablieren. Im Taubblindenwerk Hannover lernten wir im Gespräch mit Traute Becker und Sandra Runge-Fleischer eine überzeugende Lösung kennen und übernahmen diese gerne: Die Wohngruppenpartnerin oder der Wohngruppenpartner konzentriert sich, zusammen mit der Klientin oder dem Klienten, während eines mehrwöchigen Fokus ganz auf die Umsetzung der Erkenntnisse aus der multisensorischen Einschätzung, 1- bis 2-mal pro Woche. Diese Aufgabe darf, in Absprache mit der Teamleitung, Priorität haben. Die Nachhaltigkeit äussert sich darin, dass sich das gemeinsame multisensorisch Aktivsein fix in den Alltag einfügt. Nach dem mehrwöchigen Fokus übernehmen auch weitere Teammitglieder die neuen Aktivitäten.
In einem physischen Portfolio wird der ganze Prozess dokumentiert und laufend ergänzt. Dieser Arbeitsordner darf und soll auch bei den Eltern oder Therapien zirkulieren.
Work in Progress – Wertvolle und bereichernde erste Erfahrungen
Bis anhin haben wir die multisensorische Einschätzung mit einer Klientin und zwei Klienten der Tanne durchgeführt, die sich durch ihre Vorlieben, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterscheiden. Die Diagnosen reichen von starker Körperbehinderung mit Seh- und Höreinschränkung bis zu Mobilitätsressourcen mit Blindheit und Schwerhörigkeit. Auch im Wesen unterscheiden sich die drei Personen: Da ist die aufgeweckte, kommunikative junge Frau, die an Menschen und an Kommunikation interessiert ist. Da ist der in sich ruhende, neugierige junge Mann, der gerne exploriert. Und da ist der junge Mann im Rollstuhl, der sich durch feinste Zeichen und Mimik ausdrückt und einem immer wieder mal ein Lächeln schenkt.
Nach diesen ersten Erfahrungen hat sich gezeigt, dass das Angebot „multisensorische Einschätzung“ eine Bereicherung darstellt – und zwar für alle Beteiligten. Es fielen spontane Sätze wie: „Ich wusste gar nicht, dass sich A so lange konzentrieren kann“, oder „B kommt jedes Mal gerne, auch wenn er sich nicht so gut fühlt“, oder „Ich lerne ganz neue Seiten von C kennen“. Sogar Eltern sind positiv überrascht. Durch die Videoanalyse entdeckten wir Ausdrucksformen, die sogar den nahestehenden Menschen einer Klientin oder eines Klienten bisher unbekannt waren und die für das Verstehen, das Begleiten und die Weiterentwicklung der Person wichtig sind.
Jede der drei Personen schien die ungestörte Quality-Time sehr zu schätzen. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit lernen alle dazu. Es werden neue Kompetenzen entdeckt, die wertvoll für das Klientel, die Wohngruppe, die Eltern, die Therapien und uns als verantwortliche Fachpersonen für Sinneswahrnehmungen sind.
Zum Abschluss ein Beispiel
Von der jungen Frau, mit der wir die erste multisensorische Einschätzung durchführten, weiss man, dass sie Interesse an Menschen hat und gerne während der Kommunikation deren Gesicht oder Hals abtastet. Und dass sie mit den Menschen über das vergangene oder zukünftige Geschehen spricht, nicht aber über die Gegenwart. Bisher zeigte sie im Alltag kaum Interesse an Materialien. Auch wir hatten während der ersten Sequenzen der Einschätzung den Eindruck, dass die Klientin, wenn überhaupt, Materialien nur kurz berührt – beispielsweise die warme und die kalte Bettflasche als Gegensatz – aber kein vertieftes Interesse daran hat. Doch welch eine Überraschung: Während der Videoanalyse sahen wir: Immer wenn die Klientin ein neues Material spürte, hielt sie ihre Hand an den Hals der Interaktionspartnerin. So spürte sie die Vibrationen der Worte, welche die Interaktionspartnerin beim Kennenlernen des Materials sprach. Aus dieser Beobachtung leiteten wir die Empfehlung ab, das Spüren von Gegenständen stets mit verbalem Benennen zu verbinden und der Klientin die Möglichkeit zu geben, dabei den Hals des Gegenübers zu tasten. Dies ermöglicht der Klientin, im Hier und Jetzt mit spannendem Material gemeinsame Erlebnisse aufzubauen und über das Material zu sprechen. Weiter fiel uns auf, dass die Klientin neue Materialien in Sekundenschnelle berührt und taktil prüft. So mass sie den Umfang einer Kartonröhre mit Daumen und Zeigefinger, wechselte dann sogleich zum Hals der Interaktionspartnerin, um dessen Umfang mit dem der Kartonröhre zu vergleichen.
Literatur
Fröhlich, Andreas/Haupt, Ursula (2004). Leitfaden zur Förderdiagnostik mit schwerstbehinderten Kindern. Eine praktische Anleitung zur pädagogisch-therapeutischen Einschätzung. Dortmund: verlag modernes lernen.
Nelson, Catherine/van Dijk, Jan/Oster, Teresa/McConnell, Andrea (2009). Child-guided strategies: the van Dijk approach to assessment for understanding children and youth with sensory impairments and multiple disabilities. Louisville, KY: American Printing House for the Blind.
REHAVISTA (2014). Schau hin. Vorsymbolische Kommunikationssignale und motivierende Elemente finden. REHAVISTA GmbH.
Schlienger, Ines (2020). Vademecum. Entwicklungsbegleitung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Beeinträchtigungen – Entwicklungsalter bis 4 Jahre. Zürich: Ines Schlienger.