Ilka Agricola, Kai Kortus, Thomas Busch, Thorsten Schwarz, Karin Müller

Die Projektplattform Math4VIP ‒ eine neue Dimension in der Barrierefreiheit mathematischer Studieninhalte

Problemlage

Im Unterschied zur Situation in den Geisteswissenschaften und anderen Studienfächern, wie etwa den Rechtswissenschaften, in denen Texte das tragende Medium bilden, sind Studierende mit Sehbeeinträchtigung in den MINT-Fächern national wie international deutlich unterrepräsentiert. Offenbar bestehen in diesen Fächern erhebliche fachspezifische Barrieren: Komplexe, flächige Formeldarstellungen, Graphen, Diagramme sind primär auf visuelles Erfassen hin konzipiert (vgl. Bell und Silverman 2019) und nicht ohne Weiteres mit Vorlesesoftware zugänglich, für Begriffsbildung und intuitives Verstehen abstrakter Konzepte jedoch zentral.

Nur wenige Zentren bieten eine professionelle und institutionalisierte Aufbereitung solcher graphischen Inhalte. An vielen Hochschulen sind Studierende mit Sehbeeinträchtigung auf individuelle Lösungen angewiesen und meist von persönlichen, oft selbst erst anzustellenden Assistenzen abhängig; sporadisch anhand solcher Einzelfalllösungen gewonnenes Erfahrungswissen geht immer wieder verloren. Der Anspruch einer „Hochschule für alle“, dem sich viele Hochschulen verpflichtet haben, sowie der in Deutschland bestehende Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Teilhabe insbesondere auch an Studienangeboten (BTHG § 2, 1) erscheinen daher in den MINT-Fächern nur in eingeschränkter Weise einlösbar.

Eine weitere Problemdimension ergibt sich durch eine zunehmende Heterogenität der Studierendenschaft mit Sehbeeinträchtigung, bedingt etwa durch diverse und sich rasch ändernde Formate ‒ die Geläufigkeit einheitlicher Standards im Umgang mit mathematischen Inhalten (vgl. Larsson 2008) kann im Allgemeinen nicht vorausgesetzt werden.

Ein neuer Ansatz

Die Entwicklung nachhaltiger formaler Standards und fachdidaktischer Handreichungen zur barrierefreien Darstellung mathematischer Inhalte im Hochschulbereich, die Bereitstellung barrierefreier Lehrmaterialien auf Basis dieser Standards, übergreifend der Aufbau einer zentralen Informationsplattform sowie eine systematische Vernetzung unter den Hochschulen sind nun die Ziele einer von der Volkswagen-Stiftung geförderten Kooperation zwischen dem Fachbereich Mathematik und Informatik der Philipps-Universität Marburg und dem Zentrum für digitale Barrierefreiheit und Assistive Technologien am Karlsruher Institut für Technologie (ACCESS@KIT) ‒ um so insgesamt und unabhängig vom Hochschulstandort den Zugang zu mathematischen Inhalten und damit zu den MINT-Studiengängen deutlich zu verbessern. Das Karlsruher Zentrum unterstützt seit mehr als 35 Jahren Studierende mit Sehbeeinträchtigung, mit besonderer Expertise in der Entwicklung neuer Lösungen im MINT-Bereich; zur Sonderstellung der Marburger Universität vgl. etwa Lauber-Pohle und Ruhlandt 2021, 5 f.

Das im Aufbau befindliche Webportal ist erreichbar unter www.math4vip.de (Math for Visually Impaired People) und richtet sich differenziert an Studierende mit Sehbeeinträchtigung, an Lehrende und an Personen bzw. Institutionen, die mit der barrierefreien Umsetzung von Lehrmaterialien befasst sind.

Eine noch laufende Online-Umfrage versucht, angesichts der eingangs angedeuteten stark heterogenen Gesamtsituation, möglichst konkret den projektrelevanten Status quo zu erfassen, und wendet sich, im deutschsprachigen Raum, an Studierende, aber auch an Oberstufenschüler und -schülerinnen mit einer Sehbeeinträchtigung sowie an Personen, die Lehrmaterialien für Studierende mit Sehbeeinträchtigung barrierefrei umsetzen. Bei Interesse an dieser Studie freut sich das Projektteam über eine Teilnahme via https://soscisurvey.ifss.kit.​edu/math4vip/.

Literatur

Bell, Edward C./Silverman, Arielle M. (2019). Access to math and science content for youth who are blind or visually impaired. In: Journal of Blindness Innovation and Research, 9(1).

Larsson, Fredrik (2008). Braille representation and mathematics notation. A comparison of different electronic formats for mathematics and their implications for Braille production. Online verfügbar unter http://www.mtm.se/globalassets/punktskriftsnamnden/braille_representation_and_mathematics_notation.pdf (abgerufen am 12.07.2024).

Lauber-Pohle, Sabine/Ruhlandt, Marc (2021). Einleitung. In: Sabine Lauber-Pohle/Marc Ruhlandt (Hg.). Inklusives Studieren bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. Zwischen organisationaler Gestaltung und individueller Aneignung. Wiesbaden, Springer VS, 1‒9.

Abbildungen

Prof. Dr. Ilka Agricola

Gesamtprojektleitung

agricola@mathematik.uni-marburg.de

0000-0001-5237-2816

Foto: Thorsten Richter, CC BY-SA 4.0

Abbildungen

Dr. Kai Kortus

Projektleitung Marburg

kortusk@mathematik.uni-marburg.de

0009-0006-0055-788X

Abbildungen

Dr. Thorsten Schwarz

Projektleitung Karlsruhe

thorsten.schwarz@kit.edu

0000-0002-7346-5744

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Dr. Karin Müller

Koordination

karin.e.mueller@kit.edu

0000-0003-4309-1822