Mareike Steinhöfel

Tagung der AG Musik

„Gut, wieder hier zu sein, gut, euch zu sehn.“

Mareike Steinhöfel

Mit diesem Lied von Hannes Wader, seit der Coronapause die heimliche Hymne unserer Treffen, eröffneten wir auch in diesem Jahr die Tagung der AG Musik des VBS. Vom 03.–06.10.2023 fand sie in der Musikakademie Hammelburg statt. Unter dem großen Thema „Singen – Schwingen – Klingen“ näherten wir uns dem weiten und spannenden Feld der Rhythmikpädagogik.

Diesmal konnten wir neben vielen alten Bekannten auch einige neue Teilnehmende begrüßen. Am Ende der Tagung ließ sich nicht mehr erkennen, wer „alt“ oder „neu“ war. Zu den Stärken unserer AG Musik gehören die schnelle Vernetzung, die Praxisnähe und der komplikationslose Austausch von Erfahrungen und Materialien.

Das zeigte sich gleich im ersten Workshop von AG-Leiterin Beate Hesse, Friedberg. Als Musiklehrerin und Leiterin verschiedener Chöre antwortete sie auf die Frage „Stimmbildung – Einsingen – Warum eigentlich?“ sehr anschaulich: „Wenn wir singen, ist unser Körper ein Instrument. So wie Läufer sich vor einem Lauf aufwärmen, muss man auch Körper und Stimme vor dem Singen erwärmen.“ Wie man das effektiv und mit viel Spaß bewerkstelligen kann, erfuhren wir gleich am eigenen Körper. Zu besonderen Liedern und Geschichten pusteten, summten, brummten und zischten wir. Während Geräusche mit Bewegungen verbunden wurden, entwickelte sich quasi nebenbei das Körper­bewusstsein. Nicht nur bei Kindern muss man da manchmal mit Albernheitsanfällen und etwas Scham rechnen – aber ganz schnell gewannen alle an Souveränität und die Übungen taten ihre Wirkung. Mit Buchempfehlungen und einem ausführlichen Handout komplettierte Beate Hesse ihre Ausführungen und gab den Teilnehmenden damit Wissen und Material zur Hand, die die Stimmbildung in ihren Einrichtungen sicher vorantreiben werden.

Gespannt sahen wir den Stunden mit unserer Hauptreferentin Marianne Enaux aus Köln entgegen. Sie ist Diplom-Rhythmikerin, Musik- und Bewegungspädagogin sowie Instrumentalpädagogin für Klavier. Ihr Wissen gibt sie sowohl im Unterricht an Grundschülerinnen und Grundschüler als auch als Referentin für Rhythmik/Musik und Bewegung in überregionalen Fortbildungskursen weiter. Der Beginn des ersten Workshops war verblüffend. Zuerst wurde „musikalisch aufgeräumt“: Immer wenn die Musik aufhört, stehen 5 Leute auf, räumen ihre Stühle weg und bewegen sich anschließend frei durch den Raum, bis alle Stühle an der Wand stehen. Und schon war Platz für eine Kreisaufstellung. Nebenbei hatten alle sich zur Musik bewegt und gelockert, nonverbal miteinander kommuniziert und ihre Nach­barinnen bzw. ihre Nachbarn gewechselt.

Die Workshopleiterin Marianne Enaux (links) und 5 Teilnehmende sind im Halbkreis aufgestellt. Eine weitere Teilnehmerin (dritte von links) kniet auf dem Boden hinter 2 Klangstäben.  Man ist mitten in musikalischer Aktion, was sich an den Bewegungen (klatschen, schnipsen) und dem Spielen von Klangstäben und Boomwhackern erkennen lässt. Im Hintergrund sind unter anderem der Flügel und eine Gitarre zu sehen.

Abbildung 1: Marianne Enaux (li) nennt einen Namen, der nun mit Bodypercussion oder Instrumenten durch den Kreis weitergegeben wird.

Ohne es zu wissen, hatten wir damit einen der „Zaubertricks“ von Marianne Enaux erlebt. In ihren Workshops stellte sie uns Spiele mit Musik, Bewegung, Stimme und Sprache vor, ließ uns Körperklang und Bodypercussion erproben und die Freude von Improvisation mit Stimme und Orff-Instrumenten erleben. Spielerische Musikanalyse und Konzepte für musikalische Gruppenarbeit gaben Impulse für die eigene musikpädagogische Arbeit. Viele freuten sich, neue Lieder, elementare Tänze, Arrangements und Spielstücke kennenzulernen.

All diese Erwartungen erfüllte sie auf ganz eigene und faszinierende Weise. Wie schon beim musikalischen Aufräumen wusste man zu Beginn einer Einheit nie, wohin sie führen würde. Jeder Einstieg war anders. Mal begann es mit dem Sprechen kleiner Reime oder Unsinnstexte, die dann mit Bodypercussion oder Bewegungen gekoppelt wurden. Ein anderes Mal wurde zuerst ein Rhythmus in die Runde gegeben, der dann verschiedenen Bewegungen zugeteilt wurde und später in der Musik aufging. Tags darauf ertasteten wir dann blind das Material, das sie uns in die Hand gab, und kamen darüber in Bewegung und in bewusste Musik­rezeption. Tanzimprovisationen an einem langen Gummiband und freies Bewegen durch den Raum nach musikalischen Impulsen erhöhten die eigene Körperwahrnehmung. Viele Elemente enthielten auch Berührungen, sanfte Schultermassage, Handführung und Ähnliches. Wir konnten in unserer vertrauten Runde dieses Miteinander genießen. Unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen kann man aber auch in heterogenen Kindergruppen positive Erfahrungen initiieren. Manche von uns entdeckten staunend an sich oder anderen ungeahnte Talente, so z. B. beim Spiel mit der Sprechstimme, wenn beim „Laute Post“-Spiel ein Wort in immer anderer Betonung im Kreis weitergegeben wurde. Marianne Enaux verband auf neue Weise Musik, Sprache, Stimme und Bewegung miteinander. Dabei verschob sie den theoretischen Teil des Seminars bewusst in den letzten Workshop.

„Rhythmiker haben einen eigenen Blick auf Lernprozesse“, so Marianne Enaux. Rhythmik setzt Lernprozesse ganzheitlich in Gang. Weil verschiedene Kompetenzen wie Wahrnehmung, Kreativität und soziales Lernen abgedeckt werden, kann man mit Fug und Recht sagen: Rhythmik ist Persönlichkeitsbildung. Aneignung geschieht durch verschiedene Wahrnehmungskanäle, wobei der visuelle meist dominant ist. Was aber, wenn genau hier starke Einschränkungen vorliegen? Wir alle arbeiten mit Personen, deren visuelle Möglichkeiten in unterschiedlichster Weise vom „Normalmaß“ abweichen. Wie können wir die Aufgaben für sie anpassen oder umschreiben? Was funktioniert auch mit Blinden und was nicht?

Von Anfang an stand Marianne Enaux mit uns im Dialog und gemeinsam fanden wir viele Lösungen. Andere Sinneswahrnehmungen, voran die auditive, aber auch die taktile, die kinästhetische (Raum-Lage-Sinn) und die vestibuläre (Gleichgewicht), können eingebunden werden. Das Feedback unserer beiden Teilnehmerinnen, eine blind und eine stark sehbehindert, half da sehr. Viele von uns schlossen auch während einzelner Übungen die Augen, um die visuelle Informationsaufnahme auszuschließen. Einmal mehr wurde erfahrbar, wie wichtig klare Arbeitsanweisungen und nachvollziehbare Abläufe sind, wenn ein „Ansehen – Nachmachen“ nicht funktioniert. Auch fremde Berührungen und das Bewegen im freien Raum sind ohne Sehen eine echte Herausforderung. Ein spannender Neben­effekt für uns war die Erkenntnis, dass man immer wieder Neues entdeckt im scheinbar Bekannten, wenn man es mit verschiedenen Wahrnehmungskanälen „ansieht“.

Marianne Enaux ließ uns uneingeschränkt an ihrem reichen Erfahrungsschatz teilhaben. Zusätzlich zu den in ihrem Skript enthaltenen Informationen über Rhythmikpädagogik und einigen der Spielimpulse aus den vergangenen Workshops formulierte sie noch methodische Tipps und fasste die Erkenntnisse der vergangenen Tage zusammen. Ihre offene Art, ihr Interesse an unserer besonderen musikpädagogischen Arbeit und ihr fundiertes Wissen machten dieses Praxisseminar zu einem ganz besonderen Erlebnis.

Neben den Workshops der Hauptreferentin oder des Hauptreferenten planen wir bei jeder Tagung auch Zeit für Angebote aus den eigenen Reihen ein. Erprobte und praxisnahe Beispiele, die aufzeigen, was trotz unterschiedlichster Einschränkungen alles möglich ist, motivieren uns immer wieder neu. Vieles davon findet gleich in den folgenden Schulwochen seine Umsetzung in allen Teilen Deutschlands.

Stets beliebt sind die Lieder, die Torsten Nowitzki, Rückersdorf, mitbringt. Spiel- und Bewegungsfreude, Texte zu allen Themen und Lebenslagen, Hinweise zur musikalischen Umsetzung und ein hoher Fun-Faktor zeichnen seine Stücke aus. Mit seiner Schulband Studio D, die er uns in Videos vorstellte, wagt er sich auch an ernste Themen heran. Kinder mit starken Einschränkungen sind Teil des musikalischen Prozesses und haben sichtbar Freude daran. Die Ergebnisse begeistern und machen Mut.

Wir arbeiten mit sehr heterogenen Gruppen. Manche Kinder sind musikalisch begabt und motorisch nicht eingeschränkt, viele aber bringen die Voraussetzungen für „hohe Kunst“ nicht mit. Dann ist es an uns, für sie einen Platz im musikalischen Tun zu finden und ihnen ein Stück Gemeinschaftserleben und Schaffensfreude zu ermöglichen.

Dieses Ziel verfolgt auch Sola Tetzlaff, Berlin. Sie stellte uns Lieder vor, die sie für den Unterricht der Schuleingangsphase und im Förder­bereich „Geistige Entwicklung“ schuf. Es sind einfache, singbare Melodien mit eingängigen Texten aus dem Erlebnisbereich der Schülerinnen und Schüler. Viele regen zum szenischen Nachspielen oder künstlerischen Gestalten an. Der Einsatz von Geräuschen, einfachen Instrumenten und Tanzbewegungen lässt kleine Lieder zu einem ganzheitlichen Erlebnis werden. Im Workshop erprobten wir methodische Wege zur Einstudierung der Lieder und kamen ins Fachsimpeln über Umsetzungsmöglichkeiten bei unterschiedlichen materiellen, personellen und kognitiven Gegebenheiten. Fazit: Über die Verbindung von Sprache, Stimme und Bewegung ist für alle ein Zugang zur Musik möglich.

Thomas Loscher, Friedberg, stellt uns auf unseren Tagungen immer wieder neue technische Entwicklungen vor, die unsere Arbeit erleichtern oder bereichern. Diesmal baute er ein Gerät auf, das Bewegungen im Raum erkennen und in Sounds umsetzen kann. Mit dem Motion Composer können auch motorisch eingeschränkte Personen Töne erzeugen. Ganz unmittelbar kann erlebt werden, dass die eigenen Bewegungen Klänge hervorbringen und verändern. Es ist ein Gerät, das Neugier, Gestaltungswillen und Bewegungsfreude weckt und Verständnis für musikalische Zusammenhänge fördert. In Friedberg ist der Motion Composer in regem Einsatz und auch uns faszinierten seine Möglichkeiten. Sein hoher Anschaffungspreis, notwendiges technisches Verständnis und noch vorhandene Anfälligkeiten bremsten jedoch die Begeisterung der Tagungsteilnehmenden ein wenig.

Traditionell endete die Tagung mit einer offenen Stunde, in der jeder Beispiele aus der eigenen Praxis mitbringen und Erfahrungen teilen durfte. Hier begeisterte Oliver Mielke, Ilvesheim, mit seinen Umdichtungen bekannter Lieder und einer musikalischen Reise durch die Menschheitsgeschichte.

Beate Hesse, Friedberg, brachte mit einem Mülltütentanz noch einmal Bewegung in die Runde. Mit Blick aufs kommende Weihnachtsfest stellte sie außerdem ein nicht religiöses Weihnachtsmusical vor. Das lasen, spielten, sangen und musizierten wir gleich gemeinsam. So bekamen wir einen guten Eindruck von den Möglichkeiten und der Wirkung des Stückes. Viele hatten im Geist sofort ihre Schülerinnen und Schüler vor Augen, die Rollen verteilt oder passende Varianten durchdacht.

In einem großen Raum stehen circa 20 Leute in mehreren Reihen hintereinander, den Blick nach vorn auf die Tanzleiterin gerichtet. Alle befinden sich gerade in einer Seitwärtsbewegung nach links und haben die Hände zum rhythmischen Klatschen erhoben.

Abbildung 2: Musik ist Bewegung. Wir hatten viel Spaß am Tanzen, auch wenn die Koordination von Beinen und Armen hohe Konzentration erforderte.

Die Tagung endete mit einer Zusammenfassung und Gedanken zu kommenden Tagungsthemen. Aus den Reihen der Teilnehmenden kam viel positives Feedback. Die „Neulinge“ lobten die angenehme, offene Atmosphäre und die vielen Anregungen nebst Materialien, die zur Verfügung gestellt wurden. Wir arbeiten in einem besonderen pädagogischen Umfeld, manchmal fühlt man sich als Einzelkämpferin bzw. -kämpfer. Es ist wichtig, dass wir Menschen treffen, die in einer ähnlichen Situation sind und mit denen wir uns austauschen können. Neuer Input tut allen gut. Unser großer Dank gilt allen Referentinnen und Referenten, dem Organisa­tionsteam und vor allem der AG-Leiterin Beate Hesse.

Mareike Steinhöfel

Diesterwegschule Weimar

E-Mail: mareike.steinhoefel@schule.thueringen.de