„Mila packt den Koffer“ – ein Bilderbuch nicht nur
für Kinder mit Sehbeeinträchtigung

Abbildung 1: Mila packt den Koffer
Als Folgeband von „Lotta kauft ein Kleid“ (2005) und „Leo deckt den Tisch“ (2007) hat dasselbe Autorinnenteam 2023 das Buch „Mila packt den Koffer“ geschaffen. Es bietet ebenso wie die beiden Vorgängerbücher einen Betrachtungsanreiz und Lesespaß schon für kleinste Kinder mit Sehbeeinträchtigung. Ebenso geeignet ist es für Kinder mit kognitiver Beeinträchtigung, für die Logopädie oder für den DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache). Starke Konturen, klare Farbgebung und eindeutiger Bildaufbau mit einfachen Perspektiven und wenigen Überschneidungen unterstützen die visuelle Wahrnehmung auch bei deutlich reduzierter Sehschärfe. Der Bildaufbau verzichtet auf überflüssige Details und die klar erkennbare Mimik der Hauptpersonen ermöglicht es dem Kind, dem Geschichtsablauf gut zu folgen. So werden Sehfähigkeit, Sprachentwicklung und das Verständnis von Handlungsabläufen spielerisch gefördert.
Eine Geschichte erzählen
„Meine Geschichten sollen einen Anfang, eine Entwicklung und ein Ende haben. Ganz gleich wie bescheiden sie sind – sie müssen die Merkmale des klassischen Dramas aufweisen: Spannung und Lösung.“ (Leo Lionni)
Was Leo Lionni, Autor von Bilderbuchklassikern wie „Frederick“ oder „Swimmy“, prägnant formuliert, gilt auch als Leitstern für die Geschichte von Mila. Packen für Ausflüge, für Reisen, den Turnunterricht oder ganz einfach für den Ausflug auf den nächsten Spielplatz gehört zur Erfahrungswelt jedes Kindes. Ein- und ausräumen, planen, sich erinnern, sich überraschen lassen – eine Fülle von Handlungen und Denkleistungen ist damit verknüpft.
Wir begleiten Mila dabei, wie sie einen Brief aus dem Umschlag zieht und sogleich den Koffer mit Gegenständen füllt, bis er sich am Ende kaum mehr schließen lässt. Ausgerüstet mit Schirmmütze und Kantenfilterbrille ziehen Mila und ihr Stoffhund los. Auf dem letzten Bild sehen wir die beiden im Zug sitzen, die Reise beginnt. Überhaupt ist dieser Stoffhund, Milas treuer Begleiter, auf fast jedem Bild zu finden, einmal mitten in der Szene, dann wieder am Rand und nur angeschnitten. Bis auf das letzte Bild trägt dieser Hund stets sein Okklusions-pflaster.
Mit Büchern die Welt entdecken
Medien aller Art gehören zum kindlichen Alltag genauso wie Erlebnisse mit allen Sinnen und Bewegung. In Büchern, Hörbüchern, Filmen oder mit Apps gibt es vieles zu entdecken und zu lernen. Wichtig ist, Kinder bei ihren medialen Erkundungstouren zu begleiten. Das gemeinsame Betrachten, das Gesprächeführen und kreative Gestalten unterstützt sie dabei, ihre Fantasie zu entwickeln und schult ihr ästhetisches Empfinden.
In der Geschichte von Mila erleben die Kinder eine Reihengeschichte, eine Fortsetzungsgeschichte also mit einem einfachen Schema, welches sie gut antizipieren können. Die textlosen Bilder bieten Sprechanlass, Anlass zu Frage- und Antwortspiel zwischen erwachsener Betrachterin bzw. erwachsenem Betrachter und Kind: „Welche Schuhe wählt Mila wohl aus, wenn sie vor dem Regal steht?“, „Wie schafft sie es bloß, den großen Wasserball in den Koffer zu packen?“, „Und wo ist diesmal der Hund?“. Mit solchen und ähnlichen Fragen lassen sich Themen des Alltags, eigene Erfahrungen, Vorlieben und Gefühle spielerisch besprechen. Über Bilder respektive Abbildungen haben Kinder Zugang zu allen Lebensbereichen, auch zu solchen, welche nicht direkt mit ihren Alltagserfahrungen zusammenhängen. Bilderbücher können bei der sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Kinder lernen, dass der Ball im Bilderbuch nicht genauso aussieht wie der eigene, aber eben trotzdem ein Ball ist. Später identifizieren sie sich mit den Heldinnen und Helden der Geschichte, sind selber mutig und traurig, erleben Glück und Schrecken, Siege, Misserfolg und Trost. Mit dem Bilderbuch lässt sich die Erfahrung machen, dass die Welt abbildbar ist. Darüber hinaus erweitern Bücher das Weltwissen kleiner Kinder. Allerdings muss das Bilderlesen zuerst gelernt werden. Der Übergang vom sinnlichen Erfassen dreidimensionaler Objekte zum rein visuellen Erkennen zweidimensionaler Bilder muss verstanden und bewältigt werden.
Das Bilderlesen lernen
In der Regel entdecken kleine Kinder im Alter von circa neun Monaten erste Pappbücher. Es gelingt ihnen bereits in diesem Alter, ein Bild oder ein Foto als Abbild eines dreidimensionalen Gegenstandes zu interpretieren. Das ist eine erstaunliche Leistung, müssen doch Figur und Hintergrund unterschieden werden. Es braucht das Bewusstsein, dass der Gegenstand und nicht die umgebende Fläche wichtig sind. Konturen müssen als Bestandteil des abgebildeten Objektes verstanden werden, auch wenn sie beim realen Objekt nicht vorkommen. Schemata müssen erfasst, d. h. Ähnlichkeiten zwischen einem realen Objekt und einer Abbildung erkannt und visuelle Codes wie z. B. die Darstellung der Sonne verstanden werden. Deshalb haben die ersten Bilderbücher eine einfache Bildsprache:
- Sie zeigen Dinge aus der Lebenswelt des Kindes
- Pro Bildseite ist oft nur ein Gegenstand abgebildet
- Der Hintergrund ist oft einfarbig
- Meist gibt es keinen Text
- Der Gegenstand wird ganz und nicht als Ausschnitt gezeigt
Warum Bücher speziell für Kinder mit Sehbeeinträchtigung?
Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung brauchen oft länger, um das Bilderlesen zu lernen. Der Übergang vom Erfassen dreidimensionaler Objekte zum Wiedererkennen zweidimensionaler Abbildungen braucht Zeit und muss sorgfältig begleitet werden. Bildaufbau und Darstellung der sogenannten Erstlingsbücher kommen Kindern mit Sehbeeinträchtigungen – und zwar sowohl solchen mit Problemen in der visuellen Wahrnehmung als auch solchen mit okulären Schädigungen – sehr entgegen. Ihre Lebens- und Erfahrungswelt unterscheidet sich unter Umständen aber von jener normalsehender Kinder. Vieles, was den Handtastraum überschreitet, wie Tiere oder Fahrzeuge, beides beliebte Kinderbuchsujets, lässt sich mit einer Sehbeeinträchtigung schlecht erfassen und wird zuerst auditiv erkannt. Von ihrem Interesse und ihren sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten brauchen diese Kinder aber bereits Bücher, die komplexer sind als eine einfache Bildersammlung, solche mit einem Handlungsablauf oder wie Leo Lionni sagt, solche mit „den Merkmalen des klassischen Dramas – Spannung und Lösung“.
Mila und ich
Und genau da setzt auch die Geschichte von Mila an. Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung können sich in Mila vielleicht auch deshalb wiedererkennen, weil das Mädchen ebenfalls eine Brille trägt. Viele Kinder, die wir aus unserer Praxis kennen, sind blendempfindlich und müssen sich mit Kantenfilterbrille sowie draußen zusätzlich mit einer Schirmmütze schützen. Andere müssen täglich für mehrere Stunden eine Okklusionstherapie machen, d. h. ein Auge mit einem Pflaster abdecken. Diese Themen sind beiläufig in die Geschichte integriert. Sie können aufgenommen oder einfach als mögliche Varianten der Normalität gelesen werden.
Wir freuen uns, wenn viele verschiedene Kinder und Erwachsene mit Mila und ihrem Gefährten auf die Reise gehen.
Literatur
Hering, Jochen (2018). Kinder brauchen Bilderbücher. Erzählförderung in Kita und Grundschule. Seelze: Kallmeyer in Verbindung mit Klett.
Largo, Remo (2019). Babyjahre. München: Piper.
Winter, Fabian (2023). Der anspruchsvolle Weg von der Dreidimensionalität zur Zweidimensionalität. Vortrag im Rahmen der Tagung der AG Heilpädagogische Früherziehung vom 01.02.2023, Münchenstein.
Autorinnen
Christine Linder und Regula Stillhart haben während vieler Jahre in der heilpädagogischen Früherziehung für Kinder mit Sehbeeinträchtigung zusammengearbeitet und gemeinsam Low-Vision-Abklärungen und -Beratungen gemacht. Ihre beruflichen Grundausbildungen als Kindergarten- resp. Primarlehrperson und die Ausbildungen als Heilpädagogin, Heilpädagogische Früherzieherin und Low-Vision-Trainerin bildeten die Basis für diese Arbeit. Inspiriert und weiterentwickelt wurde diese neben der Praxiserfahrung auch durch Weiterbildungen als Figurenspieltherapeutin und als Lehrperson für DaZ (Deutsch als Zweitsprache).

Christine Linder
Christina.linder@vsluzern.ch
Gabriele Berüter (Grafik)
Verlag: Edition Bentheim
ISBN: 978-3-946899-11-2