Claudia Benecke, Simone Jerratsch, Martina Müller-Korn, Maren Ponik, Susanne Pregla

Wir verstehen uns blind!?

Wegeweiser Kommunikation
Vorstellung einer Kartensammlung zur Kommunikationsentwicklung von Kindern mit Blindheit und hochgradiger Sehbeeinträchtigung im Alter von 3–6 Jahren

Claudia Benecke, Simone Jerratsch, Martina Müller-Korn, Maren Ponik und Susanne Pregla

zeigt das Titelblatt. Sechs Gliederpuppen stehen beieinander. Gestik und Körperhaltung der Figuren sind so aufgebaut, als ob einige an einer Unterhaltung beteiligt sind und andere nicht.
Der Text unterhalb lautet: Tipps zur Kommunikationsentwicklung bei Kindern mit Blindheit und hochgradiger Sehbeeinträchtigung (aus der Praxis für die Praxis), darunter das Logo des LFS, darunter Erstellt am Landesförderzentrum Sehen, Schleswig, darunter C. Benecke, S. Jerratsch, M. Mueller-Korn, M. Ponik, S. Pregla

Abbildung 1: Titelblatt von Wir verstehen uns blind!? Wegeweiser Kommunikation (Quelle: Autorinnenteam)

Entstehung

Der Wegeweiser Kommunikation ist in der Arbeitsgruppe (AG) „Kommunikation“ am Landesförderzentrum Sehen (LFS), Schleswig, entstanden. Die AG besteht seit über 15 Jahren und nimmt das Verstehen und Vermitteln kommunikativer Prozesse in den Blick. Sie sucht Wege, wie kommunikative Kompetenzen für Kinder und Jugendliche mit hochgradiger Sehbeeinträchtigung und Blindheit in der Unterstützung und Beratung in inklusiven Settings sowie in den Kursangeboten für Schülerinnen und Schüler am LFS vermittelt werden können. Diese werden vom Fachpersonal des LFS entwicklungsbegleitend umgesetzt und reflektiert.

Die Mitarbeitenden der multiprofessionell zusammengesetzten AG arbeiten in unterschiedlichen Praxisfeldern und Altersstrukturen am LFS. Somit konnten Beobachtungen und Erfahrungen aus einem breit gefächerten Spektrum zusammengetragen werden und es entwickelte sich die Idee, eine Handreichung oder Broschüre für Eltern zu erstellen. Entstanden ist nun eine erste Kartensammlung mit Tipps und Anregungen für die Kommunikationsentwicklung
3–6-Jähriger, die sich an Eltern, Großeltern, Pädagoginnen und Pädagogen richtet. Sie lädt dazu ein, sich mit unterschiedlichen Aspekten der Kommunikation auseinanderzusetzen und hierzu ins Gespräch zu kommen.

Kommunikation

Grundsätzlich ist Kommunikation ein komplexes, vielschichtiges Feld, in dem nicht nur Kommunikationsstrategien und das Wissen voneinander eine Rolle spielen. Sie hat u. a. auch eine soziale Dimension, in die Werte und Haltungen der Kommunizierenden einfließen. Ihr Gelingen liegt in der Verantwortung aller Beteiligten.

Durch Kommunikation werden Beziehungen aufgebaut, stabilisiert und beendet. Kommunikative Kompetenzen sind nicht nur wichtig, um wahrgenommen zu werden oder im Gespräch zu bleiben, sondern auch um Kontakt aufnehmen zu können. Dies betrifft bereits die Kinder im Kindergarten.

Wir beschäftigen uns in dieser Kartensammlung mit sprachlichen und nichtsprachlichen (nonverbalen) Aspekten der Kommunikation, mit Mimik, Gestik, Körperausdruck und Sprache. Die nonverbale Kommunikation spielt hierbei eine große Rolle, weil berücksichtigt werden muss, inwieweit diese wahrgenommen werden kann. Ohne das entsprechende gegenseitige Wissen darüber, wie Kommunikation mit und ohne Sehen gelingen kann und welche kleinen Anpassungen den Unterschied ausmachen können, entstehen häufig auf beiden Seiten Verständnisschwierigkeiten. Für diese wollen wir sensibilisieren, damit die Kinder und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung und ihre Kommunikationspartnerinnen und -partner in ihren sozialen und persönlichen Kompetenzen gestärkt werden. Gemeinsam können alle Beteiligten zu den einzelnen Themen Ideen entwickeln und Absprachen treffen.

Individualität und Anpassung

Wie können wir den Anforderungen einer inklusiven Gesellschaft gerecht werden? Eine große Aufgabe liegt darin, sich gegenseitig kennenzulernen und miteinander zu kommunizieren.

Als Pädagoginnen akzeptieren und respektieren wir Individualität in hohem Maße. Gleichzeitig betrachten wir es als unsere Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen mit Sehbeeinträchtigung ein Verhaltensrepertoire aufzuzeigen, um Kommunikation und Interaktion bewusster gestalten zu können, da diese größtenteils durch visuelle Beobachtung und Nachahmung erlernt werden. Die Kinder und Jugendlichen sollen erfahren, welche Kommunikationsformen die „sehende Welt“ nutzt und dass ein Großteil der Verständigung ohne Worte geschieht. Z. B. können sich durch einen fehlenden Blickkontakt Irritationen ergeben. Je älter die Kinder werden, desto bedeutsamer wird es, Rituale der Kommunikation und Gesprächsregeln zu kennen und darauf reagieren zu können.

Verwendung und Aufbau der Kartensammlung

Die Karten enthalten Hinweise, Tipps und Informationen. Sie können als Hilfe und Anregung dienen, um die Entwicklung der Kinder besser verstehen und unterstützen zu können. Drei Karten der Sammlung werden beispielhaft vorgestellt.

Die Karten sollen

  • allen am Erziehungsprozess des Kindes beteiligten Personen (z. B. Eltern, Familie, pädagogisches und sonderpädagogisches Fachpersonal) als Fundus dienen,
  • gezielt ausgewählt und eingesetzt werden,
  • möglichst im Austausch mit den Bezugspersonen bearbeitet werden,
  • der Auseinandersetzung mit dieser Thematik dienen und
  • den Veränderungsprozess begleiten.

In der Kartensammlung weisen wir darauf hin, dass der Blick auch auf Situationen und Momente gerichtet werden soll, in denen Kommunikation bereits gelingt. Die Beteiligten werden gebeten, dem Kind hierzu eine Rückmeldung zu geben. Dann weiß es, dass es auf einem guten und erfolgreichen Weg ist.

Die Kartensammlung zeigt zu fünf Aspekten der Kommunikation (Mimik, Gestik, Körperausdruck, Begriffsbildung/Sprache, Gesellschaftliche Rituale) Kompetenzen auf, die Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung erwerben können. Nach diesen Aspekten sind die Karten sortiert. Jede Karte beschäftigt sich mit jeweils einer Beobachtung, die die Kommunikation beeinträchtigen kann. Auf diesen wird aufgezeigt, warum wir eine Veränderung und das Erwerben der notwendigen kommunikativen Kompetenz für sinnvoll halten. Es schließen sich Tipps zum Anbahnen und Erlernen der jeweiligen Fertigkeit sowie weitere Informationen an. Unter „Unser Weg“ ist auf jeder Karte Platz für eigene Ideen, Gedanken und Absprachen. In einem Infopool gibt es zu den Karten weitere Informationen und Erklärungen. Wir haben uns in der Kartensammlung um eine einfache Sprache bemüht, um möglichst für alle am Erziehungsprozess des Kindes beteiligten Personen verständlich zu sein.

Die jetzt vorliegenden 30 Karten für Kinder im Alter von 3–6 Jahren sind derzeit am LFS von Kolleginnen und Kollegen im Früh- und Elementarbereich in Erprobung. Erste Rückmeldungen ergaben, dass die Karten in der Praxis gut eingesetzt werden konnten und sich als hilfreich erwiesen haben. Der nächste Schritt für die AG ist es, Karten für den Grundschulbereich und vielleicht auch für höhere Altersstufen zu entwickeln.

Der nachfolgenden Auflistung können Sie den Aufbau der Sammlung entnehmen und zu welchen Themen bisher Karten entstanden sind.

  1. Einleitende Worte
  2. Mimik

    • Mimik – Was ist das?
    • Ausdrucksloses Gesicht
    • Verzerrtes Gesicht
    • Nicht passender Gesichtsausdruck
  3. Gestik

    • Gestik – Was ist das?
    • Gesten anwenden
    • Fehlende Gestik
    • Unbewusste Gesten
  4. Körperausdruck

    • Körperbewusstsein
    • Aufrechte Körperhaltung – Was ist das?
    • Verharren
    • Unbewusste Körperbewegungen, Blindismen
    • Schaukelbewegungen
  5. Begriffsbildung/Sprache

    • Fehlende Bedeutung von Wörtern
    • Fehlende Wörter
    • Pausenloses Reden
    • Schweigen
    • Schreien
    • Sprechen
  6. Gesellschaftliche Rituale

    • Kontaktaufnahme
    • Gesicht zuwenden
    • Kommen und Gehen
    • Husten, Niesen
    • Missverständnisse in der Ansprache
    • Keine Reaktion auf Ansprache
    • Reaktionen in Gesprächen
  7. Infopool

    • Kommunikation
    • Blindismen – auffällige Bewegungen
    • Individualität und Anpassungsdruck

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Kartensammlung befindet sich im Aufbau und wir freuen uns über Ergänzungsvorschläge. Diese richten Sie gerne direkt an uns oder an das Landesförderzentrum Sehen, Schleswig. Sie können den „Wegeweiser Kommunikation“ über das LFS gegen einen kleinen Betrag bestellen. Die Bildrechte liegen bei den Autorinnen.

Beispielkarten

Nachfolgend werden die Texte dreier Karten wiedergegeben. Die Originalkarten sind im DIN-A5-Format und doppelseitig bedruckt. Die Sammlung befindet sich in einem Ringbuch, das entwicklungsbegleitend mit weiteren Themen und Karten ergänzt werden kann.

Abb. 2a zeigt das Foto der Karte Gestik, Altersbereich 3-6 Jahre. Der Titel lautet: Gestik – Was ist das? Darunter ist eine Tabelle mit drei Feldern dargestellt.
Die Überschrift im ersten Feld lautet: Was wir beobachten: Es folgt der Text: Das Kind ist irritiert, dass etwas ohne Worte passiert. Es reagiert traurig oder auch wütend. Dann folgt ein Beispiel: Alle rennen zur Tür, weil die Erzieherin mit dem Finger zur Tür zeigt.
Überschrift in Feld 2: Warum wir daran etwas ändern möchten: Text: Wenn das Kind weiß, dass man sich auch über Gesten verständigen kann, wird es seltener (unangenehm) überrascht und es kommt seltener zu Missverständnissen.
Darunter in Feld 3: Tipps, als Aufzählung dargestellt: Erklären Sie die Bedeutung von Gesten: Gesten können Sprache ersetzen, (Kopf schütteln, nicken...), Gesten können Sprache verstärken! (Komm her! Geh weg! Stopp!) Beschreiben und erproben Sie Gesten im Alltag: sich melden, auf etwas zeigen, winken, ... Verbinden Sie Singspiele mit Gesten!
Danach folgt ein freier Aufzählungspunkt als Andeutung für weitere Ideen.
Ende der Tabelle, in der Fußzeile der Untertitel der Kartensammlung: Wegeweiser Kommunikation und Landesförderzentrum Sehen, Schleswig.
Abb. 2b zeigt das Foto der Rückseite der Karte 2a Gestik. Überschrift in Feld 1: Weitere Informationen: Text: Dem Kind ist nicht von vornherein bewusst, dass wir uns auch ohne Worte oder Berührung austauschen können, da es die Gesten anderer nicht wahrnehmen kann. Frühzeitige Beschreibungen und Erklärungen von Gesten im Alltag bewirken ein besseres Verständnis darüber, was um das Kind herum passiert. Achtung! Gesten können in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Bedeutungen haben.
Siehe auch: „Gesten anwenden“, „Unbewusste Gesten“
Überschrift in Feld 2: Unser Weg (hier ist Platz für eigene Ideen).

Abbildung 2a und 2b: Vorder- und Rückseite der Karte „Gestik – Was ist das?“ (Quelle: Autorinnenteam)


Abb. 3a zeigt das Foto der Karte Körperausdruck, Altersbereich 3-6 Jahre. Der Titel lautet: Aufrechte Körperhaltung – was ist das? In der Tabelle darunter lautet die Überschrift in Feld 1: Was wir beobachten: Das Kind wird selten angesprochen, weil es zusammengesunken sitzt oder liegt.
Überschrift in Feld 2: Warum wir daran etwas ändern möchten: Wir teilen uns auch über die Körperhaltung mit. Auf Mitmenschen wirkt das Kind so, als ob es nicht angesprochen werden möchte oder träumt. Es wird nicht als aktives Kind wahrgenommen. Andere Kinder – und auch Erwachsene – sprechen es weniger – oder auch gar nicht mehr an.
Überschrift in Feld 3: Tipps (darunter als Aufzählung dargestellt): Probieren Sie mit dem Kind unterschiedliche Haltungen im Stehen und Sitzen aus. Unterstützen Sie den Aufbau einer guten Körperspannung, z. B. durch Bewegungserfahrungen auf dem Trampolin, Hampelmann springen, Schwimmen, Tanzen oder auch durch Physiotherapie. Machen Sie mit dem Kind Sing-, Bewegungs- und Rollenspiele. Achten Sie dabei auf die Körperhaltung. Sprechen Sie mit dem Kind über die Wirkung von Körperhaltungen.
Danach folgt ein freier Aufzählungspunkt als Andeutung für weitere Ideen.
Ende der Tabelle, in der Fußzeile der Untertitel der Kartensammlung: Wegeweiser Kommunikation und Landesförderzentrum Sehen, Schleswig.
Abb. 3b zeigt das Foto der Rückseite der Karte 3a Körperausdruck. Überschrift in Feld 1: Weitere Informationen: Der Text lautet: Einem blinden Kind fehlt oft der Anreiz, den Kopf zu heben. Frühzeitige Einflussnahme auf die Körperhaltung unterstützt die Kommunikation und beugt zudem Fehlstellungen der Wirbelsäule vor. Viel Bewegung fördert das Körperbewusstsein. Durch Umwelterkundungen bekommt das Kind mehr Rückmeldungen über seine Umgebung und hat dadurch mehr Gesprächsthemen. Sprechen Sie bei Bedarf Ihre Kinderärztin oder ihren Kinderarzt auf hilfreiche Therapien an.
Überschrift in Feld 2: Unser Weg: (hier ist Platz für eigene Ideen).

Abbildung 3a und 3b: Vorder- und Rückseite der Karte „Aufrechte Körperhaltung – Was ist das?“ (Quelle: Autorinnenteam)


Abb. 4a zeigt das Foto der Karte Gesellschaftliche Rituale, Altersbereich 3-6. Die Überschrift lautet: Keine Reaktion auf Ansprache. In der Tabelle darunter lautet die Überschrift in Feld 1: Was wir beobachten: Text: Das Kind fühlt sich nicht angesprochen, wenn eine Ansage/Aufforderung für die Gruppe (Geschwister, Familie, KiTa-Gruppe) gegeben wird.
Überschrift in Feld 2: Warum wir daran etwas ändern möchten: Text: Das Kind soll sich als Mitglied einer „Gruppe“ angesprochen fühlen. Wir möchten das Kind nicht extra auffordern müssen.
Darunter in Feld 3 folgen Tipps, dargestellt als Aufzählung: Das Kind muss wissen, zu welcher „Gruppe“ es gehört. Teilen Sie sprachlich mit, wer sich angesprochen fühlen soll (z. B. „Ich möchte, dass alle meine Kinder...“ oder „Alle Igelgruppenkinder waschen sich jetzt die Hände.“) oder zählen Sie die Namen auf!
Vermitteln Sie deutliche akustische Signale als Rituale wie z. B. einen Gong oder „Achtung, Achtung! Eine wichtige Durchsage!“! Vermeiden Sie Extraansprachen an das Kind! Vermitteln Sie dem Kind, dass es nachfragen kann, wenn es sich nicht sicher ist! Der letzte Punkt der Aufzählung ist freigelassen als Ausdruck für Erweiterungsmöglichkeiten.
Ende der Tabelle, in der Fußzeile der Untertitel der Kartensammlung: Wegeweiser Kommunikation und Landesförderzentrum Sehen, Schleswig.
Abb. 4b zeigt das Foto der Rückseite der Karte 4a Gesellschaftliche Rituale. Überschrift in Feld 1: Weitere Informationen Text: Nichtsprachliche Impulse, wie z. B. Blickkontakte oder Gesten, können nicht oder nur begrenzt wahrgenommen werden. Das Kind muss verstehen, dass unter „wir“ in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Gruppenzusammenstellungen (Gesamtgruppe, Kleingruppe, ein Paar) gemeint sein können.
Überschrift in Feld 2: Unser Weg: (hier ist Platz für eigene Ideen).

Abbildung 4a und 4b: Vorder- und Rückseite der Karte „Gestik – Was ist das?“ (Quelle: Autorinnenteam)

Claudia Benecke

Claudia Benecke

Rehabilitationslehrerin, Landesförderzentrum Sehen (LFS)

claudia.benecke@schule-sh.de

Simone Jerratsch

Simone Jerratsch

Fachkraft für Rehabilitation (LPF) und Sonderpädagogische Fachkraft, Landesförderzentrum Sehen (LFS)

simone.jerratsch@schule-sh.de

Martina Müller-Korn

Martina Müller-Korn

Sonderschullehrerin, Landesförderzentrum Sehen (LFS)

martina.mueller-korn@schule-sh.de

Maren Ponik

Maren Ponik

Sonderschullehrerin, Landesförderzentrum Sehen (LFS)

maren.ponik@schule-sh.de

Susanne Pregla

Susanne Pregla

Sonderschullehrerin im Ruhestand

susanne.pregla@gmail.com