„…es entstehen Inszenierungen mit besonderen Qualitäten, die auch dem Publikum neue Erfahrungen bieten …“
In Reutlingen ist ein außergewöhnliches Theaterprojekt gewachsen, in dem Menschen mit Behinderungen gemeinsam mit professionellen Schauspieler:innen regelmäßig auf der Bühne stehen. Der Bildband Von Lampenfieber und Rampensäuen dokumentiert das 20-jährigen Bestehen des Theaterprojektes.
Dr.in Katharina Witte begleitet das Projekt an der PH Ludwigsburg und hat mit wbv über inklusives Theater und die Entwicklungen, Hintergründe und Gelingensfaktoren am Reutlinger Theater Die Tonne gesprochen.
Frau Witte, was ist inklusives Theater?
Der Begriff „inklusiv“ wird sehr breit und vielfältig verwendet und sehr unterschiedlich diskutiert. Dementsprechend lässt sich die Frage nach inklusivem Theater am ehesten mit einer konkreten Beschreibung beantworten: Gemeint ist an dieser Stelle eine Theaterarbeit, bei der Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und sehr unterschiedlichen Begabungen auf der Bühne stehen. Vor ca. 30-40 Jahren gab es die ersten solcher Gruppen – zunächst vor allem im europäischen Ausland. Hier hat eine enorme Entwicklung stattgefunden, inzwischen gibt es eine große Anzahl unterschiedlichster Gruppen.
Die Formen in denen inklusives Theater gemacht wird, sind dabei ebenso vielfältig wie die Anzahl solcher Projekte. Es gibt Gruppen, die eher im Freizeitbereich arbeiten, ähnlich wie andere Laientheatergruppen auch. Darüber hinaus gibt es viele Theatergruppen, die sich zu bekannten, professionell arbeitenden Ensembles entwickelt haben, die auch international auftreten, vernetzt sind und an dem großen Ziel einer wirklich inklusiven Theaterlandschaft arbeiten, in der der Begriff „inklusiv“ gar nicht mehr verwendet werden muss.
Nicht nur die Form der Projekte, auch die Entstehungsgeschichten sind sehr vielfältig. In manchen Fällen entscheiden sich Schauspieler:innen oder Regisseur:innen, dass sie die Arbeit mit anderen Zielgruppen kennenlernen und hier Erfahrungen sammeln möchten. So werden künstlerische Projekte ins Leben gerufen, die zunächst sehr experimentell arbeiten und sich dann fest etablieren. In anderen Fällen, wie dem unseren, entsteht aus einem Freizeitprojekt eine Zusammenarbeit mit professionellen Theaterschaffenden. Es gibt andererseits auch Beispiele, bei denen geschützte Werkstätten einen künstlerischen Bereich einrichten, so dass eine Theatergruppe in Form einer „Werkstatt“ entsteht.
Das inklusive Theaterensemble in Reutlingen wurde 2002 als Freizeitgruppe gegründet, allerdings mit dem Ziel, die Arbeit - damals nach dem Vorbild einiger Ensembles auch aus dem europäischen Ausland – weiterzuentwickeln. Dazu wurde Kontakt mit dem Reutlinger Theater aufgenommen und es entstand eine Zusammenarbeit, die über die ersten 10 Jahre zur Kooperation zwischen dem Theater Reutlingen die Tonne und der Lebenshilfe Reutlingen, der Bruderhausdiakonie Reutlingen und der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, damals mit Sitz in Reutlingen, führte. So konnten Teilzeitarbeitsplätze für die Ensemblemitglieder entstehen , die ansonsten in der geschützten Werkstatt arbeiten. Es sind aber auch Menschen dabei, die aus anderen Zusammenhängen kommen.
Was ist das Besondere an Ihrem Theaterprojekt in Reutlingen?
Hier arbeitet ein Theater als Kulturinstitution direkt mit sozialen Einrichtungen zusammen. Dadurch ist eine Konstruktion entstanden, die den beteiligten Personen Teilarbeitsplätze am Theater gibt, die aber durch Werkstattarbeitsplätze abgesichert sind. Das heißt, wenn jemand zum Beispiel für eine bestimmte Zeit aus Gründen der Belastbarkeit mit der Theaterarbeit pausieren muss oder möchte, ist es ohne weiteres möglich, dass die Person für eine Weile in der Werkstatt arbeitet und später dann wieder ans Theater zurückkehrt.
Eine weitere Besonderheit ist die Entwicklung, die ebenfalls nur in den Reutlinger Strukturen möglich wurde: Zu Beginn spielte das inklusive Ensemble meist eine eigene Produktion, die zwar im Spielplan des Theaters zu finden war, aber ganz klar eine Produktion des „Inklusiven Ensembles“ war. Im Lauf der Jahre spielten einzelne Mitglieder des Ensembles auch in anderen Produktionen mit und standen mit ausgebildeten Schauspieler:innen gemeinsam auf der Bühne. Dieser Trend entwickelte sich weiter, sodass das „Inklusive Ensemble“ in immer mehr Produktionen Teil eines größeren Ensembles wurde. Inzwischen wird für geplante Inszenierungen ein Ensemble zusammengestellt, das zu ähnlichen Anteilen aus ausgebildeten Schauspieler:innen und Teilnehmer:innen des „inklusiven Ensembles“ besteht. Hier findet dann wirklich inklusive Theaterarbeit statt.
Dabei ist die Struktur, in der das Ensemble in die Infrastrukturen und das künstlerische Potential eines professionell arbeitenden Theaters eingebunden ist, eine Bereicherung für alle Beteiligten. Denn auf der Bühne können Schauspieler:innen mit und ohne formale Ausbildung auch einiges voneinander lernen. Dabei entstehen Inszenierungen mit besonderen Qualitäten, die auch dem Publikum neue Erfahrungen bieten. Dies alles wird durch die Rahmenbedingungen möglich, die das Theater schafft.
Welche Impulse gibt das Buch „Von Lampenfieber und Rampensäuen“?
Das Buch soll vor allen Dingen zeigen, dass es bei inklusiv orientierter Theaterarbeit viele unterschiedliche Perspektiven gibt, unter denen die Arbeit betrachtet werden kann und muss. Hinter den verschiedenen Perspektiven stehen verschiedene Verantwortliche – u.a. für die Organisation, die pädagogische Begleitung, die Assistenz und vor allem für die künstlerische Arbeit – die durch eine gut abgestimmte Zusammenarbeit dem Projekt zu seinem erfolgreichen Verlauf verhelfen.
Das versucht das Buch abzubilden, indem jede Produktion aus den Jahren seit der Entstehung des Projektes unter einem anderen Blickwinkel in Bildern und Texten dargestellt wird. Besonders die zahlreichen Bilder vermitteln einen Eindruck von der Intensität und der Lebensfreude, die in der Arbeit an den beschriebenen Inszenierungen stecken. Sie sind ein wichtiger Bestandteil des Buches, da sie die Grundlage für die gemeinsame Arbeit im Ensemble an den Inhalten darstellen. Durch die Bilder wurden Erinnerungen geweckt und ein intensiver Reflexionsprozess unter den Beteiligten des Theaterprojektes angestoßen. Auch in dieser Hinsicht kann das Buch Impulse geben, als Beispiel für eine Darstellung eines Inklusiv orientierten Projektes, die wirklich mit den Beteiligten gemeinsam erarbeitet wurde.
Wie erreichen Sie „Ihre“ Öffentlichkeit?
Im Spielplan des Reutlinger Theaters waren die Produktionen des inklusiven Ensembles von Anfang an in den Spielplan eingebunden: Einmal jährlich findet eine Produktion „des inklusiven Ensembles“ statt. Durch die beschriebene Entwicklung gehört es inzwischen zum regulären Spielplan des Theaters, dass die Ensembles unterschiedlich zusammengesetzt sind. Mitglieder des inklusiven Ensembles sind genauso vertreten, wie die anderen festen Mitglieder des Ensembles oder die Gastschauspieler:innen. Die Öffentlichkeit reagiert auf diese Veränderungen überwiegend positiv, zum Teil hat sich das Publikum auch verändert, was für das Theater als Kulturinstitution eine positive Entwicklung im Sinne von breiterer Zugänglichkeit bedeutet. Trotzdem muss immer wieder auch mit kritischen Stimmen umgegangen werden. Dies ist Teil der gesellschaftlichen Diskussion um „Inklusion“. Die Auseinandersetzung darüber, was auf der Bühne zu sehen sein sollte, wird vom Theater als Teil seines Auftrages als Kulturinstitution gesehen und als sein Beitrag zur Förderung einer Vielfalt wertschätzenden und Teilhabe gewährenden Gesellschaft.
Was würden Sie anderen Inklusiv-Theatermacher:innen raten?
Obwohl die Erfahrungen, die wir gemacht haben, speziell auf die Entstehungsgeschichte und die Situation hier in Reutlingen bezogen sind lassen sich einige Punkte festhalten, die sich für uns in unserer Arbeit als besonders wichtig und auch besonders bereichernd erwiesen haben:
Eine wichtige Voraussetzung ist ein ein breites Spektrum an Professionalitäten, die eng zusammenarbeitet, um aus den verschiedenen Reibungspunkten, die entstehen können, eher Gelingensfaktoren statt Stolpersteine entstehen zu lassen. Zu den Grundlagen gehören strukturelle Themen, wie die zum Teil sehr komplexen Fragen der Finanzierung im Zusammenwirken unterschiedlichen Einrichtungen, aber auch ganz praktische Dinge wie die zeitliche Organisation von Proben– und Aufführungsterminen, Fahrdiensten, begleitenden Gesprächen mit Bezugspersonen usw. Hier stoßen zum Teil sehr unterschiedliche „Kulturen“ aufeinander - ein deutliches Beispiel sind die ungewöhnlichen Arbeitszeiten, die entstehen, wenn jemand im Theater statt in der Werkstatt arbeitet. Hilfreich ist dabei gute Vermittlungsarbeit, damit gegenseitiges Verständnis die Arbeit voranbringen kann. Ähnliches gilt für den Umgang mit persönlichen Bedürfnissen der Beteiligten, die während der Theaterarbeit entstehen. Sie haben vielleicht ihre Ursachen in ganz anderen Alltagsproblemen, aber in den Proben – und Aufführungssituationen im Theater müssen sie u. U. aufgefangen werden, um ein sinnvolles Weiterarbeiten zu ermöglichen. Auch für das gegenseitige Verständnis zwischen den künstlerisch verantwortlichen Personen und den aus ihrem sonstigen Alltag in die künstlerische Arbeit hinein kommenden Ensemblemitgliedern ist zuweilen eine Vermittlungsarbeit hilfreich – auch wenn hier häufig die Begegnungen sowieso von großer gegenseitiger Wertschätzung und Sensibilität geprägt sind.
Sehr gewinnbringend und entlastend sind im Reutlinger Projekt die verschiedenen Optionen für den Umgang mit Grenzen der Belastbarkeit. Dazu gehört große zeitliche Flexibilität – die bei einer sehr großzügigen Planung der Probenzeiten beginnt und bis zur sorgfältigen Planung von Ausgleichszeiten und einer Anpassung der Vorstellungstermine reicht. Eine zweite, ganz grundsätzliche Option besteht in den bereits erwähnten Möglichkeiten, aus der Arbeit auszusteigen. Diese Notwendigkeit entsteht für manche der Beteiligten als Kehrseite der Intensität, mit der gearbeitet wird und mit der jede:r einzelne sich in die Arbeit hineinbegibt. Auch die personellen Ressourcen sind in diesem Zusammenhang wichtig. Sowohl bei den Proben als auch bei den Vorstellungen müssen genügend Ansprechparter:innen vor Ort sein, die auf die unterschiedlichsten Gegebenheiten und Bedarfe reagieren können.
Ein weiterer Gelingensfaktor der Arbeit in diesem Projekt ist das Wechselspiel aus regelmäßigen Proben und Trainingsarbeit in der ursprünglichen „inklusiven“ Gruppe und besonderen Ereignissen, wie Einladungen zu Gastspielen, die Zusammenarbeit mit auswärtigen Künstler:innen oder die dokumentarische Arbeit z.B. an diesem Buch. Die psychischen, sozialen und künstlerischen Ressourcen, von denen diese Arbeit lebt, brauchen eine klare und vertraute Struktur in der Arbeit genauso, wie die Bereicherung durch „frischen Wind“ von außen und die Wertschätzung der Arbeit.
Am Ende steht einer der bedeutsamsten Gelingensfaktoren der inklusiven Arbeit in Reutlingen: Bei der Planung von Inszenierungen, der Ensemblezusammensetzung und auch bei der Entscheidung für die Zusammenarbeit mit auswärtigen Künstler:innen wird immer wieder neu von den Potentialen und auch Impulsen ausgegangen, die die einzelnen Persönlichkeiten des Ensembles mitbringen. Das führt dazu, dass alle Beteiligten mit Engagement und Ausdauer in die Arbeit einsteigen und die Herausforderungen annehmen. So können Ergebnisse entstehen, die sich auf die Einzelnen aber auch auf das Gesamtensemble positiv und bestärkend auswirken und gleichzeitig eine große Strahlkraft nach außen in die Öffentlichkeit haben.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Witte.